Bremsen verboten!
An den ständigen Preisdruck haben sich die Autozulieferer gewöhnt. Doch jetzt ändern die Hersteller die Spielregeln. Insider warnen: Wer nicht umdenkt, bleibt auf der Strecke. Eine Branchenanalyse.
ando
08.08.2012 | 10:26
Foto: Jigal Fichtner
Die Zeit der Daumenschrauben ist vorbei. Das Folterwerkzeug der Autokonzerne hat ausgedient. Jahrelang haben Volkswagen, Daimler und Co. ihre Zulieferer bei Preisverhandlungen in immer engere Schraubstöcke gezwängt. Mit jeder Runde pressten sie ein paar Prozent mehr heraus. Anfangs war der Aufschrei noch groß. Doch irgendwann spürt man den Schmerz nicht mehr. Billiger, beweglicher, besser: An diesen Druck ist die Automotive-Branche längst gewöhnt. Von Daumenschrauben spricht heute kaum mehr jemand.
„Ich kenne keine Branche, in der Lieferanten ihren Kunden so viel offenlegen müssen wie in der Autoindustrie“, sagt Bernd Bartmann. Doch der Finanzvorstand der Progress-Werk Oberkirch AG (PWO) klingt dabei äußerst entspannt. Kurz zuvor hatte er seinen Investoren neue Großaufträge präsentiert. Bis 2014 will der Ortenauer Zulieferer den Umsatz um ein Fünftel auf 400 Millionen Euro steigern. Die Ebit-Marge (Gewinn vor Zinsen und Steuern relativ zum Umsatz) soll von gut fünf auf über acht Prozent steigen.
PWO ist gut im Rennen. Und die Oberkircher tun gut daran. Denn was man auf den ersten Blick nicht sieht: Die Regeln des Rennens ändern sich radikal. Von sofort an heißt es: Wer bremst, verliert. Die Branche steckt in einem gewaltigen Umbruch. „Um die Aufgaben von morgen bewältigen zu können, müssen die Zulieferer eine gewisse Größe haben“, warnt Norbert Willmann, jahrelanger Chef des Donaueschinger Zahnradspezialisten IMS Gear.
Zwei Faktoren sind dafür hauptverantwortlich.
Faktor 1: China. Die Volksrepublik hat sich zum wichtigsten Absatzmarkt der deutschen Autoindustrie entwickelt. Beispiel Volkswagen: Die Wolfsburger haben im ersten Quartal fast jeden vierten Wagen im Reich der Mitte verkauft. Insgesamt trägt jedes fünfte in China produzierte Auto eine deutsche Konzernmarke, so der Verband der Deutschen Automobilindustrie (VDA). Im margenstarken Premium-Segment habe Deutschland gar einen Marktanteil von 85 Prozent.
Um die Qualität in ihren chinesischen Werken langfristig zu sichern, zwingen die Hersteller ihre Lieferanten, den Weg ins Ausland mitzugehen. „Die großen Zuliefer-Konzerne müssen von 2013/14 an 40 Prozent ihrer Wertschöpfung im Exportland generieren“, sagt Branchenkenner Willmann. Über die Zuliefer-Kette landen solche Vorgaben schnell bei den Mittelständlern im Rheintal, dem Schwarzwald oder am Bodensee. Viele können ein eigenes Werk in Fernost allein aber gar nicht stemmen. Sie drohen auf der Strecke zu bleiben!
Denn ein Ende des China-Booms ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die Chinesen haben noch immer riesigen Nachholbedarf. Laut VDA kommen heute in der Volksrepublik auf 1000 Einwohner 30 Pkw. In Deutschland sind es 517. Und der nächste Großabnehmer in Asien steht längst in den Startlöchern: Indien.
Faktor 2: Das Baukastenprinzip. Um Kosten zu sparen, wollen die Autobauer möglichst viele Modelle auf denselben Anlagen fertigen. VW hat sich mit seinem modularen Querbaukasten (MQB) bereits einen Namen gemacht. Die Niedersachsen wollen mehr als 40 Modelle durch ihren MQB schleusen und so die Stückkosten um 20 Prozent senken. Mercedes soll mit seinem Baukasten 2014 an den Start gehen. BMW wird ebenfalls nachziehen.
Die Hersteller konzentrieren ihre Plattformen. Und Experten warnen vor gravierenden Folgen für die Zulieferer: Künftig werden Projekte in viel größerem Umfang ausgeschrieben. Der Lieferant erhält den Zuschlag nur noch für die gesamte Plattform. „Die Zulieferer der dritten und vierten Reihe haben sich bislang auf etwa zehn Plattformen verteilt. Wenn es künftig nur noch fünf gibt, fallen zwangsläufig Anbieter raus“, so Ex-IMS-Gear-Chef Willmann.
Mit den Stückzahlen dürfte auch der Preisdruck eine neue Dimension erreichen. Dabei gehen die Autobauer hier bereits ans Äußerste. Dass viele Teilehersteller jedes Jahr um fünf Prozent billiger liefern müssen, ist kalter Kaffee. „Seit ein paar Jahren setzen die Konzerne auch auf Internetauktionen, um Zulieferer gefügig zu machen“, berichtet Christoph Münzer, Chef des Wirtschaftsverbandes Industrieller Unternehmen Baden (WVIB). Motto: Machst du mit, klicke auf ja. „Man weiß aber nicht, wer noch alles mitbietet“, so Münzer.
Zu den neuesten Stellschrauben zählt die Zahlungsmoral. Die großen Konzerne haben bei ihren Zulieferern deutlich längere Zahlungsziele durchgesetzt. „Waren vor der Wirtschaftskrise noch 30 bis 60 Tage üblich, sind wir heute häufig bei 90 Tagen“, beobachtet Lothar Broda, Vorstandschef der Kreissparkasse Tuttlingen. Einige hätten sogar bis zu 120 Tage ausgehandelt. Was das bedeutet, sieht Broda an seinen Firmenkunden: „Die Unternehmen versuchen, die Finanzierungslücke mit kurzfristigen Krediten zu schließen.“ Aufs Jahr erhöhe sich für die Firmen die Zinslast um etwa 0,2 Prozent.
Wie stark sich die neuen Spielregeln auf die Unternehmen auswirken, hängt von deren Marktposition ab. Ein wichtiges Indiz bleibt die Stellung in der Zulieferkette. Je weiter vorn ein Lieferant steht, desto besser sind die Aussichten auf eine höhere Gewinnspanne. Beispiel Mahle: Der Stuttgarter Kolbenspezialist liefert direkt an die Autobauer. 2011 schafften die Schwaben aus der Pole-Position eine Ebit-Marge von 7,1 Prozent.
„Vorne bekommt man Entwicklungstendenzen mit, kann neue Lösungen anbieten und hat Aussichten auf auskömmliche Margen“, sagt PWO-Vorstand Bernd Bartmann. Progress-Werk Oberkirch liefert einzelne Komponenten wie Wärmeabschirmungen oder Karosserieteile direkt an Daimler, VW, Ford oder BMW. Ansonsten haben sich die Ortenauer in der zweiten Reihe etabliert: Bei der Entwicklung von Stahllegierungen arbeitet PWO mit Stahlherstellern und Universitäten zusammen. Die Autobauer verlangen dünnere und damit leichtere Stahlteile, die aber großen Kräften standhalten. Gefragt sind neue Legierungen, die den Polo-Fahrer auch dann noch schützen, wenn ein Audi Q7 auf seinen Wagen prallt.
Die Expertise bringt den Zulieferer in eine bessere Verhandlungsposition. Finanzvorstand Bartmann: „Viele Konzerne fordern, dass man ihnen ins Ausland folgt. Wir verlangen in diesem Fall von unseren Kunden, dass sie uns bestimmte Mengen garantieren, sodass sich der Geschäftsaufbau für PWO lohnt.“
Wie gut sich Entwicklungen zu Geld machen lassen, sieht man bei Bertrandt in Ehningen: Das Unternehmen lebt als reiner Entwickler hervorragend von den immer neuen Anforderungen ans Auto (siehe letzte Grafik unten). Die Marge kletterte zuletzt auf 10,5 Prozent.
Von solchen Überholmanövern können die Lieferanten am Ende der Kette nur träumen. „Wer ganz hinten steht, ist immer auch Flexibilitätsreserve“, sagt WVIB-Chef Christoph Münzer. „Die Konzerne verwenden diese Zulieferer gleichsam als Zeitarbeiter. Die Ausschläge nach oben und unten sind brutal.“ Ein brutales Auf und Ab erlebte auch die auf Pressteile spezialisierte KWH Automobiltechnik in Gaggenau. Im Frühjahr will das Unternehmen 45 Stellen streichen (Econo 5/2012).
Die neuen Spielregeln machen es den Kleinen schwerer – aber die Situation ist nicht ausweglos. Zwar legt die Position in der Kette ganz wie die Startposition beim Autorennen die Gewinnchance fest. Doch sie bestimmt bei Weitem nicht allein, wie profitabel ein Zulieferer sein kann. „Ich kenne Firmen mit zehn Mitarbeitern, die zweistellige Ebit-Margen erzielen. Entscheidend ist, wie wettbewerbsfähig das Unternehmen ist“, sagt Sparkassen-Chef Broda: „Und ich bin immer wieder überrascht, wie effizient manche Firmen selbst kleinste Serien abwickeln.“
75 Prozent der Wertschöpfung beim Autobau erbringen Zulieferer. Über Jahrzehnte ist im Südwesten auch bei kleinen Firmen wertvolles Know-how gewachsen. Würden die Konzerne darauf verzichten, wäre das pure Verschwendung. Um das Problem einer zu geringen Betriebsgröße zu lösen, fordern Experten wie Professor Lutz Sommer von der Hochschule Albstadt-Sigmaringen schon seit geraumer Zeit ein Umdenken. Das Zauberwort klingt denkbar einfach: Kooperationen.
Die Firma Eckerle aus dem badischen Ottersweier hat sich das längst zu Herzen genommen. Der Montage-Spezialist für Bürstensysteme von Elektromotoren sucht gezielt Entwicklungspartner für Lieferungen nach Asien und Amerika. Auch die auf Aluminium-Umformung spezialisierte Kaiser GmbH aus Fluorn-Winzeln im Kreis Rottweil hat reagiert: Über ein Joint Venture in China bietet das 100-Mann-Unternehmen auch Großserien an.
Mit Blick auf die neuen Kräfteverhältnisse in der Welt bleibt zu hoffen, dass auch bei den Auto-Riesen ein Umdenken stattfindet. „Am Ende werden jene Konzerne gewinnen, die es rechtzeitig verstehen, sich ein starkes Umfeld zu schaffen“, sagt Branchenkenner Norbert Willmann. Dazu gehöre auch, seine Zulieferer Gewinne machen zu lassen.
„Um international zu bestehen, brauchen wir ein Miteinander und kein Gegeneinander“, so Willmann. Im Top-Management der Konzerne habe man das bereits verstanden. „Aber es dauert, bis die Botschaft bei den Einkäufern ankommt.“