„Ich verstehe die Aufregung nicht“
Econo-Herausgeber Klaus Kresse im Interview über die Zukunft der Kommunikationsbranche und unsere Demokratie, seinen 65. Geburtstag und dem Aus des Datenschutzes dank Facebook.
09.07.2012 | 10:04
Herr Kresse, Sie kennen die Branche seit Jahrzehnten und haben Zeiten erlebt, in denen Budgets keine finanziellen Grenzen kannten. Das müssen Sie den Jüngeren erklären…
Keine finanziellen Grenzen, das ist etwas verwegen formuliert. Aber richtig ist: Die Grenzen waren sehr weit gesteckt. Als ich junger Reporter bei einer großen Publikumszeitschrift war, wurde schon mal für 10.000 Mark ein Foto geschossen, dann aber verworfen, weil es nicht so recht ins Layout passte. Oder ich war mit einem Fotografen fast eine Woche in einem süditalienischen Erdbebengebiet. Das Ergebnis war eine anderthalbseitige Geschichte im Blatt. Und für ein Doppelseiten-Foto in einer Farbstrecke über das High-Tech-Land Bayern wurde schon mal per Lastenhubschrauber ein Leopard-Panzer auf eine Alm geflogen. Aber das war eine andere Zeit. Es gab noch kein Privatfernsehen. Das Internet war noch nicht einmal zu ahnen. Und die üppigen Werbegelder landeten zum Großteil bei Zeitung und Zeitschrift.
Dabei ist es doch auffällig, dass die Umbrüche in der Branche und der Aufstieg des Internets einhergehen mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Globalisierung – und Auslöser sind für eine allgemeine Verunsicherung, die bis heute anhält…
... Internet und Fall des Eisernen Vorhangs haben tatsächlich miteinander zu tun. Sie wissen ja, dass der Vorläufer des Internets, wie wir es heute kennen, das Arpanet war. Ein dezentrales Netzwerk, mit dem die US-Militärs auch für den Fall des nuklearen Black-outs die Fähigkeit zum Gegenschlag sicher stellen wollten. Aber es ist sicher ein Zufall, dass Tim Berners-Lee ausgerechnet um diese Zeit, also 1989, am CERN in Genf den Grundstein für das World Wide Web legte. Und keine Frage: Mit Internet und inzwischen auch den sozialen Netzwerken hat sich das Mediennutzungsverhalten der Menschen, wie es umständlich heißt, so stark geändert, dass buchstäblich kein Stein auf dem anderen blieb. Verkürzt könnte man also sagen, dass der politische Wind of Change auch die Medienwelt durcheinander gewirbelt hat.
Sie haben gemeinsam mit Heike Discher zu Beginn der Umbrüche den Schritt in die Selbständigkeit gewagt. Aus dem sprichwörtlichen Mut der Verzweiflung heraus?
Nein, ganz im Gegenteil. Wir waren damals beide bei Burda. Ich war dort im zwölften Jahr und eigentlich war alles ganz gut. Doch beide träumten wir von der Selbstständigkeit. Und da ich 1989 schon 42 war, musste ein solcher Schritt schnell passieren - oder gar nicht. Dass unser Sprung in die Selbstständigkeit geglückt ist, hat bezogen auf mich sehr viel mit den Erfahrungen zu tun, die ich in einem Weltunternehmen wie Burda machen durfte. Ich war ja von der Tageszeitung gekommen, habe aber erst bei Burda gelernt, was es wirklich heißt, für den Leser zu schreiben, Themen zu finden und Inhalte so zu verpacken, dass der Leser auch Spaß daran hat. Und ich durfte in Dr. Hubert Burda einen Verleger erleben, wie es heute nur noch wenige gibt - mit einem feinen Gespür für die Notwendigkeit von Veränderungen, und dies gepaart mit bemerkenswertem unternehmerischen Mut. Der außerordentliche Erfolg seines Hauses hat ihm recht gegeben. Aus einer solchen Schule zu kommen ist ein Glück.
Der Leser im Mittelpunkt – allgemein bringt man das nicht mit Corporate Publishing in Verbindung?
Falsch! Eine aktuelle Studie hat erneut bewiesen, dass es gerade die journalistischen Inhalte sind, die bei Kundenmagazinen, also im Corporate Publishing, der Erfolgsgarant sind - und keinesfalls irgend ein Werbe-Sprech. Was auch logisch ist. Denn anders als klassische Werbung zielt Corporate Publishing darauf, Vertrauen zu gewinnen. Das geht nur mit Ehrlichkeit und Authentizität. Am deutlichsten wird dies in den Online-Kanälen. Wird das Falsche geboten, ist der Leser mit einem Klick weg. Ganz abgesehen davon: Das ist auch der Grund, warum sich gut gemachte Kundenmedien jedem Vergleich mit Magazinen, die man am Kiosk findet, stellen können. Und es erklärt, warum gut gemachte Kundenmedien nicht von einer Werbeagentur kommen können.
Wir hatten es schon von den Verschiebungen in der Branche durch das Mediennutzungsverhalten. Vor zehn Jahren konnte kaum jemand ahnen, wie "das Internet" das Leben bestimmt, was wird in zehn Jahren sein?
Nun, ich bin kein Prophet. Aber ich erkenne klare Trends. Trend Nr. 1: A hoch Drei. Das umschreibt, worauf der Leser in Zukunft erwartet - anything, anytime, anywhere. Also alles, was er gerade möchte, zu jeder Zeit an jedem beliebigen Ort. Das aber geht nur, und damit sind wir bei Trend Nr. 2, über Online- und Mobile-Kanäle, am besten also über Smart Phones wie das iPhone und Tablets wie das iPad. Ich zum Beispiel gönne mir zwei Tageszeitungs-Abos, die aber nur noch via iPad-App. Und Trend Nr. 3: Targeting, also individualisierte Publikationen, 1:1 statt 1:n-Kommunikation. Denn das Informationsangebot ist heute schon so groß, dass ich ohne Individualisierung keine Chance habe, dieses Angebot auch nur annähernd sinnvoll zu nutzen. Anders formuliert: Die Player, die dem Leser die für ihn optimalen Inhalte bieten und ihm am wenigsten (Such-)Zeit stehlen, werden das Rennen machen. Ein Umstand übrigens, der mich optimistisch stimmt. Denn damit wird die Latte in Sachen journalistischer Qualität, kombiniert mit semantischer Aufwertung zum smart content, deutlich höher gelegt. Es gilt also weiterhin: Content is King. Doch es kommt hinzu: And Relevance is Queen. Da trennt sich bei den Anbietern die Spreu vom Weizen. Wir sind heute schon was die notwendige Technik und das Know-how anbelangt, optimal dafür aufgestellt. Für uns hat die Zukunft schon begonnen. Ein Wort noch zu Print. Das wird nicht verschwinden, aber Print wird sich weiter zu einer Medienform wandeln, die zwar nicht mehr aktuell ist (war Print nie), aber mit seiner Haptik eine Wertigkeit transportiert, die Online nie bieten kann.
Targeting setzt aber voraus, dass ich alles über meinen Nutzer weiß. Das Aus für den Datenschutz, wie wir ihn kennen?
Alles über den Nutzer zu wissen, das geht schlicht und einfach nicht. Zudem gibt es verschiedene Formen von Targeting - Geo Targeting etwa, oder Behavioural Targeting. Beim Geo Targeting zum Beispiel beeinflusst mein gegenwärtiger Aufenthaltsort die Informationen, die ich bekomme. Was durchaus sinnvoll sein kann. Denn bin ich zum Wandern in Südtirol, interessiert mich der Seewetterbericht für die Ostseeküste herzlich wenig. Abgesehen davon sende ich heute schon mit meinem GPS Smart Phone ständig Signale über meinen Aufenthaltsort. Meine Bank und meine Kreditkartenfirma wissen viel über mich. In jeder Patientenakte steht sehr viel Intimes. Und wenn ich klassisch eine Tageszeitung abonniere, verrate ich meine politischen Präferenzen: Wer die taz ordert, wird wohl kaum ein CSU-Symphatisant sein. Und wer die FAZ bestellt, wählt in den seltensten Fällen die Grünen. Da Sie sehr gut das Mediengeschäft kennen, wissen Sie auch, dass seit Jahrzehnten schon die Reichweite-Untersuchungen, etwa MA oder AWA, fast schon so etwas wie die gläserne Zielgruppe geschaffen haben. Und wenn Sie vom Aus für den Datenschutz in alter Form sprechen: Da sorgen schon all jene Millionen Menschen dafür, die in einem nicht endenden Anfall von Exibitionismus bei Facebook etwa ihr ganzes Privatleben der Welt offenlegen. Und zwar freiwillig. Und schließlich: Wenn ich - was jeder moderne Browser ermöglicht - im Privatmodus durchs Web surfe, hinterlasse ich nicht einmal die möglicherweise verräterischen Cookies. Und meine IP kann ich dynamisieren, so dass daraus kein Schluss auf einen einzelnen namentlich bekannten User gezogen werden kann.
Wie erklären Sie sich dann den Aufschrei nach der Ankündigung der Schufa, ein Forschungsprojekt zu initiieren, um öffentliche Daten aus sozialen Netzwerken zu nutzen?
Um ehrlich zu sein: Ich verstehe die Aufregung nicht. Wenn ich - wie ich gerade schon erklärt habe - mich vor der Welt entkleide, kann ich mich doch nicht wundern, wenn andere davon Gebrauch machen. Ich als Nutzer beeinflusse ganz entscheidend, was andere über mich erfahren. Wer zwingt mich denn, mein Intimstes offen zu legen?
Vielleicht hat schlicht ein Großteil der Nutzer der sozialen Netzwerke noch immer nicht verstanden, wie diese "Einrichtungen" ticken?
Das kann ich mir nicht vorstellen. Die meisten Menschen sind ja auch intelligent genug, den für sie günstigsten Handytarif zu finden, aus einem riesigen Angebot den billigsten Urlaubsflug zu finden oder im Internet auf Schnäppchenjagd zu gehen. Zudem wird pausenlos über die sozialen Netzwerke berichtet. Ich glaube eher, dass Bedenken ausgeblendet werden, um sich ein vermeintliches Vergnügen nicht vermasseln zu lassen. Denken Sie nur an die Anfänge Des Privatfernsehens, als auf RTL "Tutti Frutti" ausgestrahlt wurde. Eine Sendung, in der die Verkäuferin und die Bankangestellte zum Striptease vor der Fernsehnation antraten. Auch das ist nur durch einen Hang zum Exibitionismus - hier sogar im wörtlichen Sinne - zu erklären.
Plädieren Sie als Konsequenz für die Einrichtung eines Unterrichtsfachs "Online-Kompetenz"?
Meines Wissens gibt es in den Schulen entsprechende Angebote. Zum Teil kommt sogar die Polizei in den Unterricht und informiert über Gefahren im Internet und in den sozialen Netzen. Aber ganz sicher könnte, ja müsste man da nachlegen. Und sehr früh beginnen. Denn oft sind schon Zehnjährige in Facebook und Schüler VZ unterwegs. Das Problem dabei: Die Schüler wissen meist mehr als viele Lehrer und Eltern.
An dieser Stelle kommen wir nicht um eine kurze Betrachtung des Phänomens der Piraten-Partei herum…
Ich hatte befürchtet, dass Sie dieses Thema anschneiden. In zahllosen Kommentaren ist ja fast alles schon gesagt worden, was einem zu den Piraten einfallen kann. Doch eine wirklich zwingende Erklärung ihres Aufstiegs habe ich bis heute nicht gelesen. Ich stehe fassungslos vor dem Phänomen, dass es offenbar wesentlichen Teilen der Generation Y reicht, auf Inhalte weitestgehend zu verzichten und nur andere Wege der Entscheidungsfindung auszuprobieren. Nur: Worüber will man denn in LiquidFeedback, dem Piraten-Wiki also, abstimmen, wenn es außer dem Verlangen nach totaler Freiheit im Internet keine ernsthaften Positionen gibt? Die damit verbundene Ablehnung des Urheberrechts hat ja selbst jene gegen die Piraten mobilisiert, die sonst jeder alternativen, im linken Spektrum vermuteten Gruppierung spontan Beifall zollen: die Künstler und Kulturschaffenden.
Stehen wir damit am Scheideweg unserer Demokratie: Jeder will reisen, akzeptiert aber nicht die Infrastruktur vor der Haustür. Jeder will arbeiten, sieht aber die Firmen-Investitionen mit Argwohn. Jeder will wählen, man scheut aber die harten Wahrheiten…
Es ist exakt so, wie Sie es formulieren. Das Prinzip St. Florian mutiert zur Grundregel demokratischer Gemeinwesen. Das macht mir Angst, weil damit das beste Gesellschaftssystem aufs Spiel gesetzt wird. Möglicherweise, und damit komme ich auf die Medien zurück, ist schon weitgehend eingetroffen, was der große US-amerikanische Medienkritiker Neil Postman prophezeit hat. Allein der Titel seines bekanntesten Buches spricht Bände: "Wir amüsieren uns zu Tode". Sollte Postman damit richtig gelegen haben, und ich befürchte, dass dem so ist, dann ist die ungute Entwicklung durch das Privatfernsehen eingeleitet worden. Dort ist bekanntlich der DAZ, der dümmste anzunehmende Zuschauer, die Messlatte. Das würde erklären, warum Hedonismus vor Verantwortung geht, und dass sich in einem Land mit dem Prinzip "one man, one vote" in der Altersgruppe bis 19 keine zehn Prozent mehr für Politik interessieren. So gesehen gibt es auf Ihre Frage als Antwort nur ein klares Ja. Wenn wir nicht bereit sind, nach dem Kennedy-Wort "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann. Frage, was du für dein Land tun kannst" zu handeln, werden wir größte Probleme bekommen. Denn das Leben nach dem St.-Floriansprinzip ist nichts anderes als die Weigerung, Verantwortung und Pflichten zu übernehmen.
Das erscheint sehr pessimistisch…
... nein, überhaupt nicht. Nur realistisch.
Können die Medien, kann die Kommunikationsbranche eine Hilfe sein? Nicht zuletzt durch Internet und soziale Netzwerke begünstigt gibt es in der Branche ein starkes Auseinanderdriften: Inhaltlich starke Publikationen gewinnen ebenso an Reichweite wie eher seichte, der Mittelbau bricht weg. Lässt sich das auf die Gesellschaft übertragen?
Ja. Wir sehen das zum Beispiel bei Bewerbungen. Die Gauss'sche Normalverteilungskurve ist quasi nach unten ausgebeult. Will heißen: Die starke solide Mitte fehlt oder ist zumindest ausgedünnt. Es gibt deutlich mehr schwache Bewerber als noch vor 20, 30 Jahren, aber eben auch am anderen Ende der Skala richtig Gute. Die sind so gut, dass ich mit großen Respekt den Hut ziehe.
Damit sind wir wieder am Beginn: Aus Ihrer jahrzehntelangen Erfahrung heraus, sind die goldenen Zeiten – auch der Branche – vorbei?
Goldene Zeiten, das ist ein großes Wort. Selbst in den Zeiten, als die Media-Erlöse besser waren, lief das Wasser nicht den Berg hinauf. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Medienwelt weiterhin eine der interessantesten und spannendsten Branchen sein wird. Und wer auf die Fragen die sich aus geänderter Mediennutzung und veränderten Wünschen der Nutzer ergeben, die besten Antworten findet, wird erfolgreich sein und gutes Geld verdienen. Kurzum: Heike Discher und ich würden unter heutigen Bedingungen unser auf Corporate Publishing fokussiertes Unternehmen wieder gründen, Jetzt erst recht. Aber damit rede ich von einem Teilmarkt. Anders sieht die Lage dort aus, wo aufgrund der Kostenlos-Kultur im Internet die Leser noch weniger als in der Vergangenheit bereit sind, angemessen für Inhalte zu bezahlen. Es ist betriebswirtschaftlich einfach nicht möglich, für noch weniger Geld journalistische Qualität zu bieten. Und mit den schrumpfenden Werbeerlösen wird sich das nicht kompensieren lassen. Aber ohne Werbeeinnahmen müssten Magazine wie "Stern" oder "Spiegel" so um die 13 Euro kosten. Da kann sich jeder fragen, ob er so viel Geld auf den Kiosk-Tresen legen würde.
Herr Kresse, Sie werden im Juli 65 Jahre alt. Für die meisten Menschen ist das der Zeitpunkt für eine Zäsur…
Für mich wird mein 65. Geburstag ein Termin im Kalender sein. Ich werde mit meiner Frau und mit guten Freunden feiern. Und das war's dann. Am nächsten Morgen werde ich wieder an meinem Schreibtisch sitzen. Und das wird auch noch eine Reihe von Jahren so bleiben. Konkret: Wir haben die Unternehmensnachfolge langfristig geplant, so dass es keine Brüche und keine Lücken geben wird. Auf alle Fälle werde ich weiter in der Funktion als einer von zwei geschäftsführenden Gesellschaftern in den kommenden drei Jahren unseren tief greifenden Change-Prozess begleiten. Wir haben bereits vor vier Jahren in das derzeit leistungsfähigste crossmediale Redaktionssystem investiert. Damit haben wir die technische Plattform, um Smart-Konzepte und medienneutrale Content-Produktion auf Basis eines konsequenten XML-Workflows realisieren zu können. Dies wiederum ermöglicht es uns, in Richtung Targeting und 1:1-Kommunikation zu gehen. Das ist ein so faszinierender Prozess, dass Ruhestand für mich jetzt keine ernsthafte Alternative wäre. Denn ich fahre jeden Tag gern in mein Büro, wo mit einer tollen Mannschaft spannende Projekte umgesetzt werden.
(wer)