Sieben Siegel

Freiwillige Prüfzertifikate sind im Mittelstand gefragter denn je. Doch Juristen warnen: Die großen Gewinner sind die Prüfgesellschaften.

 
 

Es ist noch gar nicht lange her, da wäre wohl kaum ein Unternehmer auf die Idee gekommen, der Welt zu erzählen: „Der TÜV war da.“ Erst recht nicht, wenn die eigene Firma ihr Geld nicht mit Autos oder Aufzügen verdient, sondern mit Büroarbeit.

Die Zeiten ändern sich. Seit Roland Trost sich einen Prüfer ins Haus geholt hat, soll ruhig jeder wissen: Sein Unternehmen ist jetzt TÜV-zertifiziert. Trosts Geschäft sind Fremdsprachen, genauer gesagt Übersetzungsdienstleistungen. Seit März genügen die Abläufe seiner Schramberger Firma RKT offiziell dem Standard der Norm DIN EN 15038. „Mit dem Zertifikat wollen wir unsere Qualität darstellen“, sagt der Chef.

Doch es gibt noch einen anderen Grund: Roland Trost hat sein Büro zertifizieren lassen, weil der Markt dies so verlangt. Jedes Jahr lassen sich acht deutsche Übersetzer das TÜV-Siegel aufdrücken. Je mehr es werden, desto größer wird der Druck auf alle Büros, die noch keine Plakette haben.

RKT ist auf technische Übersetzungen spezialisiert. Eine Nische, in der selbst kleinste Differenzen sehr genau genommen werden: zum Beispiel, ob in einem Text von mechanischer Spannung die Rede ist oder von elektrischer.
Roland Trost kennt den Unterschied. Nach seinem Studium zum Maschinenbautechniker arbeitete er bei einem Schweizer Messtechnikhersteller mit 800 Beschäftigten. Nun ist er seit 22 Jahren im Übersetzungsgeschäft, hat mittlerweile 30 Mitarbeiter.

Für das TÜV-Siegel hätte deutlich weniger gereicht. DIN EN 15038 fordert im Wesentlichen, dass nur Mitarbeiter Texte übersetzen, die eine Ausbildung zum Übersetzer haben. Und dass jeder Übersetzer sein fertiges Werk noch von einem Kollegen gegenlesen lässt („Vier-Augen-Prinzip“).

Das wird man ja wohl noch erwarten dürfen, mag man sich als Kunde denken. Doch ein Prüfsiegel verkörpert mehr. Es stillt das Bedürfnis nach Sicherheit, das gerade hierzulande so groß ist. In der Autorepublik Deutschland stehen Plaketten für Qualität. Die Prüf-gesellschaften haben das erkannt. Und machen damit Kasse.

1800 Euro zahlt ein Büro wie RKT nach Econo-Recherchen für die erste Prüfung beim TÜV Süd. Hinzu kommen 180 Euro Zertifikatskosten und jährlich 800 Euro Lizenzgebühren für das Logo. Die Folgeprüfungen schlagen mit 850 Euro zu Buche. Zwei Jahre blaues Siegel kosten so fast 4500 Euro. Ein stolzer Betrag für einen kleinen Dienstleister.

„Das Geschäft mit Zertifikaten hat eine regelrechte Eigendynamik bekommen“, sagt ein früherer Top-Mitarbeiter einer großen Prüfgesellschaft, der seinen Namen lieber nicht in der Presse sehen will. „Gerade Siegel und Prüfzertifikate, die man eigentlich vernachlässigen kann, sind ein riesiges Geschäft geworden.“

Die Übersetzungsbüros sind dabei nur ein Beispiel von vielen. Der TÜV Süd hat es geschafft, selbst im Krisenjahr 2009 ordentlich zu wachsen. Während die Wirtschaft weltweit auf Talfahrt ging, kletterten die Erlöse des Münchener Prüfkonzerns um 4,5 Prozent auf mehr als 1,4 Milliarden Euro. Der größte Batzen entfällt auf das Geschäftsfeld Industrie. Hier habe der Konzern „erfolgreich neue Leistungen entwickelt und auf den Märkten etabliert“, heißt es im Geschäftsbericht. Und so soll es weitergehen: Bis 2015 will der TÜV Süd 15 Prozent des Gesamtumsatzes mit Produkten und Leistungen abdecken, die weniger als fünf Jahre auf dem Markt sind.

Allein der Nutzen für die Kunden ist zweifelhaft. „Wer glaubt, dass er etwa in Schadensersatz-fragen aus allem raus ist, bloß weil er sich für einen zertifizierten Zulieferer entscheidet, täuscht sich gewaltig“, warnt der Anwalt Jürgen Neuberger von der Rottweiler Kanzlei Hirt + Teufel. Zertifiziert würden nämlich in der Regel nicht die Produkte, sondern lediglich die Abläufe im Unternehmen.

Die Prüfkonzerne juckt das nicht. Im Gegenteil: Sie werfen weiter immer neue Siegel auf den Markt. Beispiel Dekra: Die Stuttgarter locken derzeit Logistiker mit einer CO2-Norm, die 2012 in Kraft tritt. Die Nachfrage gibt den Schwaben recht. Auch der Dekra-Konzern wächst seit Jahren. Während der Wirtschaftskrise stieg der Umsatz mit Industrie-Prüfdienstleistungen und Zertifizierungen um satte zwölf Prozent.

Das Thema Umweltschutz zieht derzeit besonders gut. Weil sich immer mehr Firmen einen grünen Anstrich verpassen wollen, boomt das Geschäft mit Öko-Siegeln. Die potenziellen Abnehmer sind für TÜV und Co. leicht erreichbar: Viele stehen bereits in der Datenbank der Prüfer. Allein Dekra prüft beispielsweise 50?000 Aufzüge in Deutschland. Zu diesen Sicherheits-Checks sind die Betreiber verpflichtet. Ihnen versucht die Prüfgesellschaft, freiwillige Zusatz-Siegel zu verkaufen: Im Idealfall wird ein Aufzug erst auf Sicherheit geprüft – und erhält dann eine Umweltplakette obendrauf.

Sogenannte Siegelprodukte sind bei Dekra inzwischen ein komplettes Geschäftsfeld. Die Stuttgarter entwickeln eigene Prüfzeichen und stellen die Kriterien für bestimmte Branchen selbst auf. Wie viel Umsatz die Dekra allein mit freiwilligen Siegeln macht, verrät der Konzern nicht. „Aus Wettbewerbsgründen.“

Insgesamt – so viel lässt sich sagen – läuft es für die Schwaben aber prächtig: Seit 2004 hat die Dekra ihren Gesamtumsatz fast verdoppelt – auf zuletzt mehr als 1,8 Milliarden Euro. Mit dem Industrie-Prüfgeschäft hat sich der Konzern nach eigenen Angaben „aus dem Stand unter die Top Ten der Welt katapultiert“.

An dem boomenden Geschäft mit den Siegeln wollen immer mehr Firmen mitverdienen. Und das mit teils zweifelhaften Methoden: Für ausgewählte Abzeichen der TÜV-Rheinland-Marke DIN-Certco reicht eine bloße Registrierung. Die Kölner zertifizieren so mitunter Firmen, die sie noch nie betreten haben. „Da wird ein Qualitätsanspruch erweckt, ohne dass geprüft wurde“, wettert ein Sachverständiger des TÜV Süd.

Wie lange der Boom noch anhält, entscheidet der Markt. Doch der verhält sich schon heute mitunter paradox, wie das Beispiel des Übersetzungsbüros RKT zeigt: Das nach Norm vorgesehene Vier-Augen-Prinzip verursacht zusätzliche Kosten. Die RKT-Kunden können daher wählen, ob sie gegen Aufpreis nach dem zertifizierten Ablauf oder lieber herkömmlich übersetzen lassen wollen. Auf Messen werde er immer wieder gefragt, ob sein Büro zertifiziert sei, berichtet Geschäftsführer Trost. Am Ende zählt jedoch meist der Preis: „Nicht mal eine Handvoll Kunden haben die Vier-Augen-Begutachtung bisher in Auftrag gegeben.“

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