In allen Gebäuden von Endress+Hauser weltweit findet man eine Skulptur: einen großen Ring, eine Art Ehering. Was hat es damit auf sich, Herr Endress?
Klaus Endress: Es handelt sich um den Loyalitätsring. Dieses Thema beschäftigt mich seit geraumer Zeit. Ausgangspunkt meiner Überlegung ist die Erfahrung, das manche Menschen im Berufsleben gerne noch extra arbeiten, Verständnis haben, Unterstützung anbieten und so weiter. Andere machen das nicht. Warum ist das so? Wenn die Menschen in einem loyalen Verhältnis miteinander stehen, dann läuft alles besser, die Ergebnisse, die Zahlen, das Menschliche.
Was verstehen Sie unter Loyalität?
Endress: Die Umschreibung "partnerschaftlicher Umgang" passt für mich am besten. Der Respekt ist dafür die Grundlage, auf der alles erdenklich Positive bis hin zum Vertrauen fußt. Dazu kommt die Qualität, denn in einer partnerschaftlichen Beziehung muss man sich auf den Anderen und seine Aussagen verlassen können. Der dritte Aspekt ist der ausgewogene Nutzen, eine Beziehung ist ein Geben und Nehmen, das eben im Einklang sein muss. Die Kür davon ist dann die Symbiose, für die es im Tierreich viele Beispiele gibt, wie Clownfisch und Seeanemone. So stellt sich für mich das System der Loyalität dar.
Der Mensch ist aber kein Clownfisch...
Endress: Natürlich nicht, aber er hängt mit dem entscheidenden Faktor zusammen: Loyalität findet immer zwischen Lebewesen statt, nicht zwischen Dingen. Welche Menschen stehen nun in einem Unternehmen in Beziehungen? Das sind die Kunden, die Mitarbeiter und die Gesellschafter. Auf diese Drei lassen sich die Beziehungen immer herunterbrechen. Jeder hat andere Gründe, warum er begeisterungsfähig ist: Den Kunden begeistern Kompetenz, Flexibilität, Preisgestaltung und Qualität. Der Mitarbeiter möchte eine interessante Aufgabe, eine faire Entlohnung, Anerkennung und ein gutes Klima. Die Gesellschafter möchten stolz sein auf das Unternehmen, die Entwicklung prägen und natürlich auch Geld erhalten. Wie stellt man nun aber diese Beziehungen dar? Ich habe mich darüber mit einem befreundeten Künstler ein Jahr lang ausgetauscht. Am Ende hat er eine Skulptur geschaffen mit dem Titel "Loyalty and Responsibility": Sie besteht aus einem bronzenen Rad aus drei Teilen, die ineinander greifen - ein Symbol für die loyalen Beziehungen zwischen Kunden, Mitarbeitern und Gesellschaften. Das Ganze ruht auf einem steinernen Sockel, der für die Verankerung des Unternehmens in Umwelt und Gesellschaft steht und die ökonomische, soziale und ökologische Verantwortung verdeutlicht.
Wir leben aber in zahlengetriebenen, globalisierten Zeiten von Basel III - welche Rolle kann die Loyalität da noch spielen?
Endress: Nehmen wir ein Unternehmen an sich: Das ist nur eine Ansammlung von Dingen, Gebäuden, Maschinen, Produkten, Prozessen... Aber wirklich bewegt wird jedes Unternehmen allein von den Menschen! Damit sind wir automatisch wieder bei dem genannten Trio: Kunden, Mitarbeiter und Shareholder. Die Überlegung ist: Je besser diese drei miteinander umgehen, desto besser entwickelt sich ein Unternehmen. Das hat überall auf der Welt seine Gültigkeit.
Noch einmal: Loyalität, das klingt nach Old Economy, die Unternehmen, zumal im ländlichen Raum, erleben aber einen "War of Talents". Wie macht man also das, was Sie eben so schön umrissen haben, auch für Hipster, die Generationen Y und Z und all die anderen jungen Leute sexy?
Endress: Die vorhin beschriebene Skulptur haben wir an sicherlich 30 verschiedenen Endress+Hauser-Standorten weltweit aufgestellt. Übrigens war das auch logistisch nicht trivial: Allein der Ring, die "Alliance", der das Verbindende symbolisiert, wiegt gut 160 Kilogramm. Der Stein als Basis ist noch viel schwerer. Doch egal wo wir die Skulptur aufgestellt haben, in Asien, Afrika, Amerika oder Europa: Die Menschen sind zwar unterschiedlich, haben andere Sozialisierungen, Sprachen und Ausbildungen, aber die Philosophie, die sich hinter der "Alliance" verbirgt, wird überall geschätzt. Warum? Weil jeder Mensch überall anständig behandelt werden möchte. All die ethischen Grundsätze, wie jeden Menschen so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte, schwingen ja da mit. Wozu es führen kann, wenn nicht nach diesen ethischen Grundsätzen gehandelt wird, haben wir in der Subprime-Krise dramatisch erleben müssen.
Überspitzt gesagt: Mit Loyalität lassen sich die Probleme der Welt lösen?
Endress: Ja, das glaube ich. Loyalität kann man nicht anordnen, sondern sie entsteht im gegenseitigen Geben und Nehmen. Wenn einer keinen Nutzen mehr erfährt oder sogar Nachteile erleidet, dann bedeutet dies das Ende einer loyalen Beziehung. Wir haben es innerhalb der Endress+Hauser-Gruppe vor etlichen Jahren mit dem Leiterplattenspezialisten PPE erleben müssen: Dieser kleine Bereich mit gut zehn Prozent Anteil am Umsatz hat den Rest gefährdet. Deshalb haben wir damals die Entscheidung zum Abstoßen treffen müssen. Wir konnten uns dann aber um PPE alleine kümmern, was wir natürlich getan haben. Am Ende ist niemand zu Schaden gekommen. Die Welt, egal ob im politischen oder wirtschaftlichen Sinne, funktioniert eben viel besser, wenn man einen guten, einen loyalen Umgang miteinander pflegt. Sie müssen nur einmal genau hinschauen: Überall wo dieses Prinzip gelebt wird, ist die Performance besser.
Mit dem "War of Talents" haben wir gerade schon eine von zwei aktuellen Herausforderungen angesprochen: Demografie und Digitalisierung. Bei Gesprächen mit Verantwortlichen gerade in kleineren Unternehmen bekommt man immer wieder den Eindruck, beides wird noch nicht wirklich ernst genommen. Wie ist hier Ihre Sichtweise?
Endress: Pauschal lässt sich das nicht sagen. Die Fakten liegen aber auf der Hand. Die Menschheit wächst und wird älter und das ist ein wichtiger Treiber von Entwicklungen. Wir spüren das in der Messtechnik: Essen, Trinken, Luft, Medizin oder auch Infrastruktur, an alles werden höhere Maßstäbe angelegt, zugleich muss mehr und günstiger produziert werden. Dieser Megatrend Demografie wird sich nicht verändern, weil niemand freiwillig eine Tablette nehmen wird, um aus dem Leben zu scheiden. Jeder gesunde Mensch hängt am Leben. Für uns Messtechniker und alle anderen Unternehmen, die in den genannten Bereichen unterwegs sind, bedeutet dieser Trend: Wir werden auch in 100 Jahren noch gut zu tun haben. Es drängt sich aber noch eine andere Erkenntnis aus diesem Megatrend auf: Die Menschen müssten länger arbeiten. Aber wenn ein Verantwortlicher nur daran denkt, das Renteneintrittsalter vielleicht um ein Jahr hinauszuschieben, hat er keinen guten Stand. Was dann beim Stichwort Demografie natürlich noch mitschwingt, ist der Fachkräftemangel. Anders ausgedrückt haben wir nicht die richtigen Menschen am richtigen Platz. Aber das ist keine neue Entwicklung. Es gab schon immer Wanderungsbewegungen. Die Menschen mussten dann halt ausgebildet werden, um zu Fachkräften zu werden. Sie haben eine sehr positive Sicht auf die Entwicklung.
Mit Verlaub: Das Reservoir der Menschen, die ausgebildet werden können, wird kleiner.
Endress: Dazu gebe ich Ihnen ein Beispiel. Mein Vater hat Endress+Hauser 1953 in Lörrach-Stetten gegründet. Das war damals eine Maschinenbau- und Textil-Gegend. Elektronikunternehmen gab es dort nicht. Das war der Grund, weshalb wir von Beginn an immer sehr viele Auszubildende hatten und Weiterbildungsmöglichkeiten anbieten mussten. Es hat Jahrzehnte gebraucht, um die Elektronik in der Region zu etablieren. Aber man muss sich eben auf den Weg machen, um etwas zu ändern. Denn eine Lösung für Herausforderungen gibt es immer, nur gilt es die eben anzupacken. Nehmen Sie als Beispiel die Agrarwirtschaft. Vor 200 Jahren hat die Hälfte der Weltbevölkerung in dem Sektor gearbeitet. Damals hat man immer gesagt: Wenn das Wachstum so weitergeht, dann kann der Planet die Menschen nicht mehr ernähren. Heute leben wir immer noch - obwohl nur noch 1,5 Prozent der Erwerbstätigen in dem Sektor arbeiten. Wir darben deswegen nicht, aber wir produzieren anders. Ganz ähnliche Entwicklungen gibt es auch in der Fertigung. Schauen Sie sich auf Bildern Produktionen aus den frühen 1980er Jahren an und vergleichen Sie diese mit heutigen. Das sind riesige Unterschiede, weil es eine stetige Entwicklung gibt. Meine Diplom-Arbeit habe ich über kundenbezogene Auftragsfertigung geschrieben.
Sie waren ein Vordenker für die "Industrie 4.0"?
Endress: In die Richtung ging es. Mir schwebte ein Baukastensystem für eine modulare Fertigung mit einem hohen Vorfertigungsgrad vor Augen. Das Prinzip ist ähnlich wie beim Pizzabäcker: Teig und Zutaten liegen bereit, der Kunde wählt aus und wenige Minuten später ist das Essen fertig. Der Pizzabäcker, der bei der Bestellung erst mit dem Teig kneten beginnt, hat verloren. Die One-Piece-Flow-Konzepte funktionieren bis heute auf die Weise. Vor Jahrzehnten konnte sich niemand vorstellen, dass dies einmal Standard sein wird. Auch wir haben erst 1987 mit den ersten modularen Produkten begonnen. Damals gab es dann immer eine Kritik: Die Grenzkosten sind höher! Ja, das mag stimmen, dafür sind aber die Gesamtkosten niedriger. Das alles jedoch zeigt, man kann Entwicklungen in seinem Sinne beeinflussen. Man braucht dafür nur zwei Dinge: Hauptsächlich die Überzeugung, dass es funktionieren kann - und dann noch ein wenig Glück.
Lassen Sie uns von der Technologie einen kurzen Sprung zurück zur Demografie machen. 2015 war ein Wendejahr: Der Jahrgang 1950 kam ins Rentenalter und mit ihm laut Experten der erste Jahrgang, der aufgrund der damaligen Verhältnisse bis heute breiter in Führungsaufgaben zuhause ist. Haben Sie diese Entwicklung auch so beobachtet?
Endress: Das ist ein interessanter Aspekt. Für ein dynamisches Unternehmen kann und darf das aber kein Maßstab sein. Jedes Jahr gehen "Top-Shots" in Rente oder wechseln zu anderen Unternehmen. Deshalb muss ständig ein Reservoir an Führungskräften nachgezogen werden. Wir haben damals bei meinem Ausscheiden aus der Unternehmensführung schon im Vorfeld die Chancen genutzt, um deutlich jüngere Nachfolger heranzuziehen. Das ist nichts, was man übers Knie brechen kann. Dafür braucht es viele Gespräche. Auch hier gilt für mich: Die Schwierigkeit ergibt sich erst, wenn man verpasst, etwas zu tun. Überhaupt bin ich der Ansicht, jeder Mensch im Unternehmen, egal auf welcher Ebene, braucht immer mindestens ein Pendant. Jeder verantwortliche Unternehmensführer muss dafür Sorge tragen, dass dies so ist. Dabei geht es nicht darum, jemanden kurz darauf in die Wüste zu schicken. Es geht einfach darum: Jedem kann etwas passieren, ein Unfall, eine längere Erkrankung und dann fällt derjenige aus. Wie geht es dann weiter? Deshalb ist dieses Stellvertreter-Thema schlicht eine Sache der Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern und dem Unternehmen.
Aber das ist kein Prozess, den man mal eben so umsetzt. Das setzt jahrelange Vorarbeit voraus.
Endress: Das ist so. Man muss damit beginnen und durchhalten.
Was ist schwieriger: beginnen oder durchhalten?
Endress: Durchhalten ist schwieriger. Wie viele Dinge werden denn begonnen, an denen man die Lust verliert? Da muss man aber durch. Wichtig ist auch: Das Auge des Herrn muss auf der Sache ruhen. Das hört sich großspurig an, aber wenn der Chef die Wichtigkeit des Anliegens vermittelt, dann kümmern sich auch die wirklich engagierten Leute darum. Wir wollen schließlich das Ergebnis und nicht nur das Erlebnis. Die Freude ist doch, einen Lauf über 100 Meter zu gewinnen und nicht die Erinnerung, wie schön die ersten 95 Meter waren.
Woran erkennt man diejenigen, die nur vor dem Auge des Herrn gut dastehen wollen und diejenigen, die tatsächlich Leistung bringen?
Endress: Das macht die Erfahrung in der jahrelangen Zusammenarbeit. Da trennt sich die Spreu vom Weizen. Da bewahrheitet sich regelmäßig auch der Spruch: "Wie der Herr, so s?Gescherr." Wenn es in einem Bereich nicht richtig läuft, dann kann der jeweilige Leiter das sicher einige Mal entschuldigen. Am Ende hilft das aber auch nicht. Man braucht ja Gründe, warum etwas geht, nicht warum es nicht geht.
Es gibt aber nicht nur einen Fachkräftemangel, sondern auch einen Nachfolgermangel für Geschäftsführer und Inhaber. Auf der anderen Seite sind unter anderen chinesische Investoren aktuell verstärkt auf Einkaufstour. Wie wird sich die Wirtschaftsstruktur in den kommenden Jahren verändern? Bleibt der inhabergeführte Mittelstand tonangebend?
Endress: Wenn ich die Schweiz als Vorbild nehme und mir die Struktur anschaue, dann ist Roche in diesem Sinne ein Familienunternehmen. Die Familie ist tonangebend, auch wenn niemand direkt bei Roche arbeitet. Novartis kann zwar ankündigen, man kaufe nun Roche, aber es nützt nichts, weil die Familien es nicht wollen. Familienunternehmen geht es nach meiner Beobachtung immer besser als den anonymen Unternehmen. Sie bilden das Rückgrat der Volkswirtschaft. Klar wird es immer mal wieder Veränderungen geben, weil eines dann doch verkauft wird. Aber dafür werden an anderer Stelle welche gegründet. Nach meiner Beobachtung hat es hier in den vergangenen Jahren keine signifikante Verschiebung gegeben. Das funktioniert wunderbar und wird sich deshalb nicht grundlegend ändern.
Es wird also auch weiterhin Nachfolger geben?
Endress: Natürlich. Das liegt doch in der menschlichen Natur, einige wollen Führungsrollen übernehmen. Ich kann jedenfalls nicht erkennen, dass die sogenannte "Null Bock"-Generation ihrem Ruf über die Maßen hinaus gerecht werden würde. Ähnlich ist es bei der Generation Y. Auch hier gibt es genügend Leute, die Willens sind und bereit, dafür am Anfang Abstriche in Kauf zu nehmen. Ganz generell sind die Menschen übrigens so gepolt, dass sie nach Schutz, Geborgenheit und Austausch streben. Deshalb kommt ihnen die Situation in einem Familienunternehmen in den allermeisten Fällen entgegen.
Die zweite Herausforderung für die Unternehmen ist die Digitalisierung. Wann haben Sie das Potenzial für Endress+Hauser erkannt?
Endress: Die Natur an sich ist ja analog, alles entwickelt sich immer aus dem heraus, was vorher war. Mit den Nullen und Einsen der digitalen Welt verhält es sich ganz ähnlich, auch hier baut eines auf dem anderen auf. Schon in den 1970er Jahren haben wir mit den ersten Spielereien begonnen. Anfangs hatten wir noch Rechner mit 32-Kilobyte Leistung, das waren richtig große Maschinen. Dann kamen die PC, mit einer für damalige Verhältnisse gigantischen Rechenleistung, und so weiter. Diese Entwicklung hat jeder erlebt. Die Bussysteme zur Übertragung von Messwerten in der verfahrenstechnischen Industrie haben eine ähnliche Entwicklung erlebt. Das Schlagwort von der "Industrie 4.0" beschreibt vor diesem Hintergrund natürlich keine Revolution, es ist eine Evolution. Diese Entwicklung läuft seit Jahrzehnten. Auch die Befürchtung, die Digitalisierung macht Arbeitsplätze in Unternehmen überflüssig, ist so nicht richtig. Was stimmt ist, bestimmte Arten von Dienstleistungen werden bei uns nicht mehr benötigt. Aber alle Dienstleistungen direkt am Kunden werden weiterhin benötigt, denn die Kunden bleiben, wo sie sind.
Wie weit ist Endress+Hauser bei der Evolution der digitalen Transformation vorangekommen?
Endress: Wir sind sehr weit. Themen wie Fernwartung sind problemlos umsetzbar, wenn der Kunde es wünscht. Wobei wir die Ansätze dafür schon vor 20 Jahren zumindest in der Theorie erarbeitet hatten. Die Frage war: Wann steht ausreichend Rechnerpower zur Verfügung, um es vernünftig umsetzen zu können?
Hat die Evolution der Digitalisierung durch das Smartphones und Tabletts mit all den neuen Möglichkeiten noch einmal einen neuen, anderen Schub bekommen?
Endress: Man muss die Frage unter folgender Vorgabe betrachten: Was können unsere Produkte im Sinne des Kundennutzen dadurch noch mehr? Dazu haben die neuen Technologien ganz sicher einiges beigetragen. Aber noch einmal: Die Grundgedanken dazu sind nicht neu! Man brauchte die Möglichkeit der Umsetzung. Eine andere Betrachtungsweise ist übrigens: Wie kann die digitale Welt das eigene Geschäftsmodell ins Wanken bringen? Amazon als digitale Plattform hat hier einiges vorgemacht und sollte als Warnung egal für welche Branche dienen: Wo brauchen mich die Kunden nicht direkt oder könnten Produkte und Leistungen ähnlich wie bei Amazon oder Uber auch anderweitig erhalten? Dann hat man schlechte Karten. Dazu kommen Kannibalisierungseffekte, weil man den eigenen Vertrieb schwächt, wenn man selbst online seine Produkte anbietet. Es braucht also eine klare Positionierung, sowohl als Dienstleister wie auch bei den Vertriebswegen.
Bei der Digitalisierung, so wie sie landläufig verstanden wird, geht es immer um den Nutzen, den Mehrwert für den Kunden. Sind deshalb produzierende Unternehmen weniger betroffen?
Endress: Nein, die sind durch den globalen Wettbewerb genauso betroffen. Am Ende muss man immer schneller, besser oder kundenspezifischer sein, als der Wettbewerb. Das Prinzip Amazon gilt auch hier.
Wobei es bemerkenswert ist: Amazon eröffnet nun Buchläden...
Endress: Es ist eben wie immer kein "Entweder-oder", sondern ein "Sowohl-als-auch". Nehmen Sie als Beispiel die Automobilhersteller: Alle haben Otto- und Dieselmotoren im Angebot, damit der Kunde wählen kann. Dann kann man dem Kunden die Vor- und Nachteile plausibel erklären. Ein anderes Beispiel sind Apotheken: Man kann seine Medikamente mit einem gewissen Risiko im Internet bestellen oder man holt sie in der Apotheke.
Welche Rolle kann ein Verband wie der WVIB bei den angesprochenen Herausforderungen wie der Digitalisierung und der Demografie spielen?
Endress: Der Verband hat sogenannte Erfa-Gruppen, in denen sich Chefs zum Erfahrungsaustausch treffen. Ich wage die Behauptung, wir verschlafen keinen einzigen Trend. Lange bevor Themen in der Öffentlichkeit besprochen werden, haben wir sie bereits auf dem Radar. Deshalb sind die von Ihnen angesprochenen Herausforderungen schon lange diskutiert worden. Wir sind eben kein ländlicher Verband im Dornröschenschlaf, der auf den Prinzen wartet...
Setzt der WVIB da auf eine Art Schwarmintelligenz?
Endress: Wenn man so will... Wobei der Begriff es nicht ganz trifft. Es gibt naturgemäß eine Vielfalt an Ideen in diesen Gruppen. Die Vielfalt ist wie die Natur - die ist ja auch nie die Einfalt. Es kommt also eine Vielfalt an Ideen in diese Gruppen und wächst in den Diskussionen. Je nachdem, welches Thema besonders rasant wächst, könnte sich dann daraus ein Schulungsthema für das WVIB-Seminar-Unternehmen mit gut 650 Veranstaltungen pro Jahr ergeben. Wer beim WVIB ist, kann also keine Entwicklung verschlafen. So wird man fast zwangsläufig ein erfolgreicher Unternehmer.
Der WVIB wurde 1946 als "Fachverband für die Metallindustrie" gegründet, um vor dem Hintergrund der schwierigen Rahmenbedingungen im Schulterschluss Lösungen finden. Für die damalige Zeit ein ungeheuer weitsichtiger Ansatz?
Endress: Das stimmt. Auf diesem Grundprinzip arbeitet der Verband bis heute, natürlich über die sieben Jahrzehnte verbessert und verfeinert. Aber das Miteinander, der Austausch in den Erfa-Gruppen gehört zum Markenkern, wie es so schön heißt.
Woher hat man aber zur damaligen Zeit den Mut genommen, gerade die Chefs an einen Tisch zu holen?
Endress: Der Anfang war ganz sicher schwierig. Pioniere arbeiten eigentlich nie gut zusammen. Ich meine das nicht despektierlich. Die Pioniere erschaffen etwas aus dem Nichts heraus. Irgendjemand muss ja anfangen, etwas zu tun, da muss man vielleicht auch mal nur auf den eigenen Vorteil schauen. Aber eine langfristige Zusammenarbeit beruht, wie wir schon ausgeführt haben, natürlich auf dem Prinzip des Geben und Nehmen. Die Pioniere werden dann im weiteren Verlauf durch die Netzwerker und Integratoren abgelöst und es entsteht ein stabiles System. Generell ist der Ablauf, wie er beim Verband zu beobachten war, auch in der Wirtschaft erkennbar. Wir haben unweit von Endress+Hauser in Reinach seit 15 Jahren einen Business-Park, der durch eine Stiftung getragen wird. In dieser Zeit wurden etwa 150 Unternehmen gegründet. Bei diesen Start-ups sind die Gründer ebenfalls Pioniere. Im Gegensatz dazu werden die Unternehmen im Schwarzwald meist in der zweiten und dritten Generation geführt, dort sind ganz andere Qualitäten bei der Führung und der Zusammenarbeit gefragt. Der Verband ist die Plattform für diesen Austausch, und wenn es ihn nicht geben würde, müsste man ihn erfinden!
Aber: der WVIB hat zwar 1000 Mitgliedsunternehmen mit zusammen 195.000 Beschäftigten und ist damit ein wirtschaftspolitisches Schwergewicht. In der öffentlichen Wahrnehmung dominieren aber andere Verbände?
Endress: Hier gibt es zwei Aspekte: Erstens sind wir ein regionaler Verband mit dem Schwerpunkt auf dem Schwarzwald. Hier ist unser Bekanntheitsgrad schon ganz gut. Zweitens wollen wir von unserem Selbstverständnis her auch gar keine politische Macht sein. Wir sind keine Lobbyisten, unsere Mitgliedsunternehmen sollen durch uns nur besser werden. Wird sich daran künftig etwas ändern? Klaus Endress: Natürlich kann man Stück für Stück weiter an der Wahrnehmbarkeit arbeiten. Aber es geht uns nicht um Wachstum oder Größe. Größe ist kein Wert an sich. Wir haben eine sehr gute Mitgliederstruktur, unsere Finanzen sind kerngesund, wir verschlafen eigentlich kein Thema und stärken unsere Mitglieder.
Zum Abschluss die Frage: Woher kommt diese Naturverbundenheit bei Ihnen? Ganz viele Ihrer Erklärungen hängen mit ihr zusammen, der Baum ist eines ihrer Lieblingsbilder.
Endress: Das wurzelt natürlich in meiner Kindheit. Ich war verträumt, verspielt und nicht der beste Schüler, dafür habe ich sehr viel beobachtet. Bis heute ist es für mich eine Freude, mit Hund und Pferd in der Natur zu sein, um zu reflektieren und zu beobachten, wie sich Dinge entwickeln. Da lässt sich ungeheuer viel für Wirtschaftskreisläufe ablesen. Dazu kommen philosophische Betrachtungen: Eine Pflanze ist niemals selbst schuld, wenn sie nicht richtig wächst. Wir hingegen suchen immer einen Schuldigen, wenn etwas nicht klappt. Damit ist für uns dann der Fall erledigt, was natürlich nicht so ist. Eine andere Betrachtung ist: Was stark ist, hat lange gebraucht, um so zu werden. Alles was in der Natur schnell in die Höhe schießt, bleibt schwach und stirbt früh. Die Natur begrenzt sich im Wachstum, sie sucht den Ausgleich, nicht das Gleichgewicht. Man könnte ja meinen, wenn man einen Baum mit CO2 "füttert", dann müsste er wie verrückt wachsen. Das macht er aber nicht. Stattdessen bildet er im nächsten Jahr weniger Blätter und spart auf diese Weise Energie, die er an anderer Stelle einsetzen kann. Bäume optimieren sich auf diese Weise stetig selbst.
Was können Unternehmer daraus ableiten?
Endress: Unternehmen müssen stetig diesen Ausgleich suchen und die Kräfte, die Energie richtig und sinnvoll einsetzen. Seitdem ich diese Erkenntnisse hatte und auch umsetzen durfte - das ist ja ebenfalls ein großes Glück, wenn man seine Erkenntnisse umsetzen darf! - haben wir mehr als zehn Jahre hintereinander immer beste Jahre gehabt. Die Ausnahme war das Jahr 2009, aber da haben wir auch relativ gut abgeschlossen im Vergleich zu anderen. Übrigens akzeptieren alle Teile im Baum das übergeordnete Ziel: überleben. Deshalb verfolgt keine Wurzel, kein Blatt, kein Stängel ein anderes Ziel. So legt sich kein Blatt über das andere, um einen Vorteil zu haben. Der Mensch denkt leider anders: Wenn ich es gleich wie der andere mache, dann bin ich ja nicht besser, Stichwort interner Wettbewerb. Dabei wäre es viel zielführender, wenn es anders wäre. Also muss man den internen Wettbewerb abstellen, alle sollten ein Ziel verfolgen und miteinander kooperieren. Dazu kommt dann die Kommunikation mit den Kunden, die zu Innovationen führt. Wir haben auch hier mit Kooperation, Kommunikation und Innovation wieder einen Dreiklang, wie eingangs bei der Loyalität bereits umschrieben. Wo man sich auch in der Natur umschaut: Sie macht das über Jahrmillionen im Grunde sehr erfolgreich - also kann das System so schlecht nicht sein!
Herr Endress, ich danke für das Gespräch!
Das Gespräch wurde im April 2016 geführt.