1 Rebellenland
Moritz Haidle ist einer der jungen Erfolgswinzer. Ein Besuch an einem Ort, der Revoluzzer prägt und Diabetiker-Teststreifen erlebt hat.
Die Luft an diesem Morgen ist kalt und klar. Die Sonne wirft ein leicht diffuses Licht auf die eindrucksvollen Steilhänge unter der Stettener Y-Burg. Es ist die schönste Seite dieser Jahreszeit. Die Blätter der Rebstöcke leuchten, von hellgrün bis rostrot ist alles geboten. Die Atmosphäre ist einladend. Man möchte die Fahrt unterbrechen, aussteigen, tief Luft holen, spazieren gehen - mitten hinein.
Von der Stettener Hauptstraße abgebogen, empfängt einen genau hier, nach nur wenigen Hundert Metern das Weingut Karl Haidle. An dem alten Fachwerkhaus ranken sich grün-gelb-rote Rebblätter um Fenster mit roten Fensterläden. Unter dem breiten Vordach am Eingang steht, leicht erhöht, eine große, dunkelrot gestrichene Bank mit Blick auf den Weinberg. Ein Willkommen, eine Einladung zum Verweilen und natürlich auch zum Verkosten. Angekommen auf dem Weingut, liegt Stille über allem.
Es lässt sich kaum erahnen, dass genau jetzt in diesen Wochen Hochbetrieb, eine der arbeitsreichsten Zeiten des Jahres herrscht. Es ist Lese-Zeit. In dieser Woche ist das Große Gewächs dran. So ist das jetzt überall bei den etwa 80.000 deutschen Winzern - ob in Rheinhessen, der Pfalz, Baden oder dem viertgrößten Weinanbaugebiet Deutschlands: in Württemberg. Die anderen Lagen in Deutschland mögen etwas sonnenverwöhnter sein. Das war es dann aber auch schon mit den Unterschieden - es überwiegen die Gemeinsamkeiten der jungen Erfolgswinzer: Gewissenhaftigkeit, Eigenständigkeit, Interesse an Neuem und ein gesunder Respekt vor den Erfahrungen der Väter.
"Die eigentlichen Revoluzzer, diejenigen, die wirklich mutig waren und viel verändert haben, das waren unsere Väter. Das waren die echten Pioniere." Moritz Haidle vom Weingut Haidle ist in jedem Satz der Respekt anzumerken. Er sitzt in Arbeitsmontur und Stiefeln am großen, quadratischen, schweren Holztisch inmitten des Raumes, der für Weinpräsentationen vorgesehen ist. An den Wänden sind auf Glasregalen, dezent beleuchtet, die Erfolgsweine des Gutes aufgereiht. Mittendrin auf Augenhöhe ist zu lesen: "Wine improves with age - the older I get, the more I like it!"
Wenn Haidle spricht, liegt in seiner Stimme Bewunderung für seinen Vater, Hans Haidle. Der gehörte vor vierzig, fünfzig Jahren zu den Winzern, die schon im Sommer Trauben auf den Boden schnitten, um weniger Ertrag zu haben. Die Trauben, die übrig blieben, sollten gehaltvoller werden.
Dazu gehörte Mut - nicht nur in Württemberg. Haidle zählte auch zu den ersten Winzern, die begonnen haben, in Deutschland mit französischen Barriquefässern zu arbeiten - für den eher schweren Rotwein. Das Holz sollte man schmecken und der Alkoholgehalt durfte etwas höher sein. Damals im deutschen Weinrecht für Qualitätsweinwaren verboten, mussten Weine aus diesen Fässern als - minderwertiger - Landwein verkauft werden. Haidle lehnt sich zurück und lächelt, stolz: "Die haben so viel krassere Aktionen gebracht als wir Jungen jetzt?...". Aber die jungen Erfolgswinzer, wie Haidle, Winzer in dritter Generation, machen auch heute vieles anders.
Ihnen bescheinigt man ebenfalls Mut, obwohl Haidle das gar nicht so bedeutungsschwer sieht: "Wir gehen jetzt einfach ein wenig mit dem Trend - das würden unsere Eltern aber auch nicht anders machen. Wenn man so tickt, wenn man neugierig bleibt und zuhört, ist das so." Was heißt das konkret? Haidle beispielsweise setzt auf extreme Ertragsregulierung der Reben, aufwendige Handarbeit, kleine Kisten bei der Lese, um die Trauben nicht unnötig zu quetschen und Spontanvergärung ohne Reinzuchthefe.
Das zahlt sich aus: Es vergeht kein Jahr, in dem seine Weine nicht mit den höchsten Preisen und Auszeichnungen bedacht werden, national und international. Haidle gehört damit zu den besten 60 Jungwinzern Deutschlands (Handelsblatt-Ranking). In dieser Liste ist er einer von zwei Württemberger Winzern. Im Gault-Millau Wein-Guide 2016 zeichnete man ihn mit drei Trauben aus, der Eichelmann 2016 gibt ihm vier Sterne für das Wein-Portfolio. Das Erfolgsrezept? "Ich fahre aktuell den Alkohol etwas zurück, mehr gebrauchtes Holz, weniger neue Fässer, damit der Holzgeschmack nicht mehr so dominant ist. Alles noch ein wenig schlanker. Jetzt trinken ja alle leichtere Sachen gern?..."
Haidle verweist auf die vielen jungen Sommeliers, die derzeit vor allem halbtrockene, feinherbe Mosel-Cabinett-Rieslinge goutieren. Die dürfen auch gern mal 20 bis 30 Gramm Restzucker haben, Hauptsache der Alkoholgehalt liegt nicht über zehn, elf Prozent. So kann man den ganzen Abend Wein trinken, ohne Reue.
Alles wiederholt sich, da ist sich Haidle sicher, nur vielleicht nicht so extrem: "Vor zwanzig, dreißig Jahren wollten alle nur richtig trockene Rotweine. Da sind die Kunden mit Diabetiker-Teststreifen auf Weinfesten rumgelaufen und haben den Papierstreifen in den Wein gehalten, um zu schauen, ob der Zuckergehalt auch wirklich unter zwei Gramm Restzucker liegt." Ein Mitarbeiter unterbricht kurz das Gespräch. Er bringt von draußen nicht nur die herbstliche Kühle, sondern auch einen angenehm leichten Duft nach Holz, Fass und Trauben mit - man vergisst hier keine Sekunde, wo man ist.
Mit Routine werden die anstehenden Fragen schnell geklärt, ein kurzes Flachsen, ein Lachen - und weiter geht's. Die Stimmung ist gelöst. "Eigentlich war ja alles schon mal da. Wir haben das Rad nicht neu erfunden." Haidle nimmt sich daher vor allem der "kleinen Stellschrauben" an und - stellt das Weingut auf ökologischen Weinbau um. Damit liegt er im Trend: Laut Ipsos-Weinstudie 2016 spricht sich immerhin bereits jeder sechste Bundesbürger für ökologischen Anbau und Weingenuss aus.
Man denkt in ökologischen Kreisläufen, agiert schonend, verzichtet auf chemische-synthetische Pflanzenschutzmittel, leicht lösliche, mineralische Düngemittel und Gentechnik. Die Verarbeitung ist aufwendig. Soll es also bio sein, muss man als Käufer unweigerlich etwas tiefer in die Tasche greifen. Das damit gerade die Unter-35-Jährigen die wenigsten Probleme haben, gefällt Haidle.
Er möchte das Thema Wein ohnehin gerne etwas jünger werden lassen - ohne ältere Käuferschaften zu verschrecken. Dafür geht er auch schon mal ungewöhnliche Kooperationen ein: In diesem Jahr tritt eine neue Haidle-Wein-Edition für den Stuttgarter Club Schräglage den Beweis an, dass sogar Hip-Hop und Weißwein zusammenpassen. Und auch das neue Imagevideo für das Weingut, zeigt auf sympathische Weise andere Wege zu neuen Käuferschaften. Haidle lächelt. "Das hat alles sehr, sehr viel Spaß gemacht."
Woher aber holt man sich immer wieder diese Inspiration für Neues? Bei den Anderen, sagt Haidle. Er hat im Burgund, in Australien, in Kalifornien, im Rheingau und in Baden gelernt und studiert - überall gab es da schon jede Menge Inspiration. "In jedem Weingut kann man sich was abschauen, deshalb besuchen wir uns ja auch heute noch alle gegenseitig. Die Winzer haben untereinander ein sehr freundschaftliches Verhältnis, egal woher sie kommen. Dieser Beruf schweißt einfach zusammen."
Der Austausch kann aber nicht alles an Inspiration sein. Ist es nicht: "Ganz viel probieren, ganz viel Wein kaufen, egal, wo man ist. Immer auch die Basis-Weine, nicht nur die Spitze." Klar auch, dass der Urlaub danach geplant wird. Die freien Tage verbringt der Jungwinzer in irgendeiner Weinregion der Welt. Die Neugier auf "andere" Weine ist ungebrochen: "Ich frage mich immer: Wie hat der Winzer das hinbekommen, wie hat er das gemacht?"
2016 ist Moritz Haidles dritter Jahrgang - seine Vorstellungen werden von Jahr zu Jahr genauer. Der Vater berät und unterstützt, lässt ihm dennoch freie Hand. Besser kann eine solche Konstellation nicht sein. Nach der Verabschiedung ist am Himmel über dem Weingut keine Wolke zu sehen. Kitsch? Nein, das Glück ist eben mit dem Tüchtigen. Auch hier.
Die Reportage erschien zuerst in der Mai-Ausgabe 2017 von Econo.