1 Alles auf Position!
Rottweil ist auf dem Sprung zur Landmarke an der InnovationsachseStuttgart–Zürich. Das liegt nicht allein am Testturm von Thyssen-Krupp.Die Grundlagen werden seit Jahren konsequent gelegt
Die Baustelle am Rand der Innenstadt von Rottweil hat Symbolkraft. Noch schmiegt sie sich unscheinbar zwischen ein großes Lebensmittelgeschäft und das „Spital am Nägelesgraben“. Die Handwerker ziehen auf dem Areal ein jüdisches Gemeindezentrum mit Synagoge hoch. Vier Millionen Euro fließen in den Bau, dessen Architektur an ein dreiteiliges Zelt erinnern soll und der bald das Areal prägen wird.
„Das Gebäude breitet die Arme aus“, erläutert der Architekt Tobias Thiel sein Konzept. Der Bau steht damit für eine besondere Offenheit, die auch ohne Einzäunung und Absicherungen auskommen soll.
Prägnanter lässt sich die Stimmung, der aktuell herrschende Geist in Rottweil nicht umschreiben. Offen und gespannt stehen die allermeisten Bürger dem gegenüber, was in und um die Stadt gerade vor sich geht. Und das ist eine ganze Menge – auch abseits des Testturms von Thyssen-Krupp!
Man kann es so ausdrücken: Rottweil positioniert sich, um künftig auf der Innovationsachse Stuttgart–Zürich eine klar erkennbare Landmarke zu sein.
Allerdings hat diese Positionierung nicht erst mit dem Bau des Turms begonnen. Seit Jahren verfolgt der Gemeinderat eine Investitionspolitik, um den Standort attraktiv zu machen. Doch bislang waren es einzelne Stränge, die durch den Turm nun miteinander verwoben werden. „Es fügt sich jetzt“, umschreibt es der Architekt Alfons Bürk. Der gebürtige Rottweiler begleitet seit Jahrzehnten die Entwicklung der Stadt. Doch dazu später mehr.
Um das von Bürk erkannte „Fügen“ überhaupt zu ermöglichen, waren zwei Grundlagen unabdingbar. Erstens: Der Verkauf der EnBW-Anteile im Jahr 2001. Zwölf Millionen Euro wanderten ins Stadtsäckel. Ein Pfund, mit dem in den Folgejahren von der Sanierung der Innenstadt, der Neugestaltung des Nägelesgrabens bis hin zum Neubau der Stadthalle und dem Ausbau der Schulinfrastruktur eine Vielzahl von Investitionen angestoßen wurden. Wollte man diesen Invest in die Standortqualitäten erst jetzt angehen, man wäre hoffnungslos zu spät dran. Wenn sich Thyssen-Krupp überhaupt für den Standort entschieden hätte – eine müßige Denkarbeit.
Die zweite Grundlage für die Offenheit der Rottweiler ist sogar noch wichtiger: Die Bürger haben Mitspracherecht. Die Verwaltung zeigt sich offen und transparent wie wenige andere. OB Ralf Broß löst damit ein Wahlversprechen ein.
Diese Offenheit wird von den Bürgern honoriert. Broß geht mit seiner Verwaltung nicht mit fertigen Konzepten in die Öffentlichkeit, sondern lässt Raum für Entwicklungen (lesen Sie hierzu auch das Interview auf Seite 50). Auch Matthäus Reiser, Vorstandsvorsitzender der Kreissparkasse Rottweil, ist überzeugt von dem Vorgehen: „Es ist wichtig, dass die Bürger in die Entscheidungen über neue Projekte miteinbezogen werden. Denn nur, wenn die Bewohner das Gefühl haben, mitbestimmen zu dürfen und vollumfänglich informiert worden zu sein, erreicht man eine breite Akzeptanz. Dann tragen die Bürger die Entscheidungen mit und sind auch für kommende Projekte offen.“
Wunderbar ablesen lässt sich das am Streit um den Neubau eines Gefängnisses auf der Gemarkung Rottweil. Die Stadt ist seit Jahrhunderten ein anerkannter Justizstandort, das Gefängnis prägt den Rand der Altstadt. Doch ein Neubau? Es entbrennt ein erbitterter Streit. Beobachter fürchten ob der Schlagzeilen gar generell um die Attraktivität des Standorts.
Doch mehrere Jahre und einige Standortsuchläufe in der weiten Region später hat Rottweil erneut die Chance, den JVA-Standort zu behalten. Um es kurz zu machen: Die Bürger sind am Ende dafür. „Es war ein Kraftakt“, so OB Broß. Der Prozess der Meinungsbildung wurde von der Verwaltung in einem Buch gebunden. Es ist ein Lehrbuch. Die Rottweiler haben sogar erreicht, dass die Architektur der JVA keine Blaupause der Anstalt in Offenburg werden wird. Es gibt einen Architektenwettbewerb für den Bau. Ein Novum!
Rottweil kann indes mit einer Reihe von Einzigartigkeiten aufwarten – auch abseits der Fastnacht. Das beginnt mit den Römern, die die Grundlage der „ältesten Stadt in Baden-Württemberg“ legen. Auch Max Duttenhofer prägt ab 1884 mit der Erfindung des rauchschwachen Schießpulvers den Standort nachhaltig – ebenso wie sein Vermögen mit für den Siegeszug des Automobils verantwortlich ist. Seine Bedeutung für die Stadt zeigt seine Telefonnummer: Es ist die „1“.
Die Bedeutung von Duttenhofers Pulverfabrik im Neckartal reicht bis heute. Hier kommt Architekt Alfons Bürk ins Spiel. Er macht sich von Jugend an für den Erhalt der Baukultur stark, in den 1980er-Jahren berichtet der „Spiegel“ über ihn. In den 1990er-Jahren erhält er vom Rhodia-Konzern den Auftrag, mit dem Neckartal etwas anzufangen.
Auch damals musste Bürk Überzeugungsarbeit leisten, denn viele Rottweiler konnten sich kaum vorstellen, was aus dem teils arg heruntergekommenen Gelände drunten im Tal werden sollte. Denkmalgeschützte Bauten hin oder her.
Tatsächlich entstanden ist ein einzigartiges Gewerbegebiet mit dem 1916 entstandenen „Kraftwerk“ als Veranstaltungszentrum der Trendfactory im Mittelpunkt. Die Agentur Teufels (früher Markkom) hat in dem stilvoll renovierten Gebäude ebenso ihren Sitz wie die bundesweit als Experten geschätzten Restauratoren der Holzmanufaktur. Ab Mitte 2016 wird sogar die Hochschule Furtwangen dort Räumlichkeiten für Labore anmieten. Zwar ist das Engagement auf drei Jahre begrenzt, doch ob man dann tatsächlich die Nähe zu allein drei Gymnasien und Tausenden Schülern wieder aufgibt, wird sich zeigen. Andere auswärtige Bildungsanbieter zeigen jedenfalls großes Interesse am Standort.
Wenn das Neckartal das Gesellenstück war, dann ist die aktuelle Entwicklung die Meisterprüfung. Denn es geschieht aktuell ungeheuer vieles parallel. Der Präzisionswerkzeughersteller Otto Dieterle mit 60 Mitarbeitern saniert nach dem großen Invest in einen Verwaltungsbau vor zwei Jahren nun den Bestand. Die Kreissparkasse wird die Hauptstelle energetisch auf Vordermann bringen. Und nur einen Steinwurf entfernt entsteht das „Entrée zur Königstraße“, ein urban anmutendes Ensemble mit 52 Wohnungen in fünf Gebäuden. Die Besonderheit: Die Investoren sind Bürger.
Aber nicht nur darin zeigt sich die Offenheit der Rottweiler, Neuerungen zuzulassen. Auch die Umgestaltung des alten Kapuziner-Klosters zu modernen Veranstaltungsräumen zeugt davon. Und es gab sogar einen Architektenwettbewerb für die Bebauung des „Paketpost“-Areals an sensibler Stelle nahe der Altstadt. Einen Investoren für das Projekt zu finden, dürfte kaum Schwierigkeiten bereiten, immerhin hat sogar jemand Interesse, im historischen „Spital“-Gebäudekomplex ein Hotel zu eröffnen. Neue Händler zieht es ebenfalls in die Innenstadt. Aufbruchstimmung ist allenthalben zu spüren – das zieht bis in die Verwaltung, wo Wirtschaftsförderer André Lomsky nun ein Team von neun Mitarbeitern in seiner Stabsstelle führt. Neben der Wirtschaft verantwortet er dann auch den Tourismus. Beim Baustellen-Tourismus rund um den Turm haben Lomsky und das Team bewiesen, was machbar ist.
Wenn sich am Ende nur ein Bruchteil der Ideen und Vorhaben realisieren lässt, die noch in den Köpfen stecken, wenn die Touristen tatsächlich die „höchste Besucherplattform“ auf dem Turm stürmen, dann ist die Stadt eine der wichtigsten Landmarken auf der Innovationsachse. Rottweil hat sich dafür bereits bestens positioniert. Das „Jahr der Türme“ 2017 wird aber die Nagelprobe.