Die Pläne zur Novellierung der Medizinprodukteverordnung auf EU-Ebene haben vor knapp zwei Jahren für Aufregung unter den Unternehmern gesorgt. Auch die Clusterinitiative MedicalMountains hat eindringlich vor den Folgen der überarbeiteten Regeln gewarnt. Wie ist der aktuelle Stand, Frau Glienke?
Yvonne Glienke: Wir haben uns Anfang 2013 mit einem umfangreichen Papier mit klaren Hinweisen und Lösungsvorschlägen in die Diskussion eingebracht. Gut die Hälfte unserer Einwände fanden auch Gehör. Derzeit läuft das parlamentarische Verfahren aber noch.
Andreas Schwab: Es gibt derzeit eine Zwischenlösung, mit der aber niemand zufrieden ist. Deshalb werden wir voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte in einen Trilog mit der EU-Kommission treten, um das weitere Vorgehen abzustimmen.
Wie bewerten Sie als Unternehmer die Entwicklung von den ersten Entwürfen der Novellierung zu dem, was aktuell auf dem Tisch liegt, Herr Lazic?
Sven Lazic: Es hätte uns wirtschaftlich stark getroffen, wenn die ersten Ansätze so umgesetzt worden wären. Da wir auch Medizinprodukte der Klasse III herstellen, wären die umzusetzenden Auflagen nicht mehr wirtschaftlich darstellbar gewesen.
Schwab: Wenn ich Sie recht verstehe, haben die bisherigen im parlamentarischen Verfahren eingebrachten Veränderungen aus Ihrer Sicht Verbesserungen ergeben?
Lazic: Auf jeden Fall. Allerdings sind noch nicht alle groben Schnitzer abgearbeitet. Einer davon hätte extreme Auswirkungen auf unsere Region: Demnach sollen eine Vielzahl einfacher Instrumente in die Klasse IIa hochgestuft werden und damit ohne einen erkennbaren Nutzen für den Patienten den schärferen Anforderungen unterliegen. Das würde für Tuttlingen enorme Auswirkungen haben.
Schwab: Diese Gefahr sehe ich auch. Deshalb haben wir uns in den Verhandlungen bemüht, diesen Punkt zu verändern. Leider ist das an der Mehrheit der anderen Fraktionen gescheitert. Aber wir haben aktuell Gespräche geführt, um doch noch zu einer Verbesserung zu gelangen.
Gehen wir noch mal einen Schritt zurück: Auslöser für die Novellierungspläne war der Skandal um die verunreinigten Brustimplantate in Frankreich. Hat der Patientenschutz nicht Vorrang?
Lazic: Wir verschließen uns auf keinen Fall dem Patientenschutz. Kein Unternehmer will ein schadhaftes Produkt abliefern. Das kann sich niemand leisten. Aber es braucht in der Gesetzgebung Augenmaß.
Schwab: Natürlich, der Patientenschutz hat oberste Priorität. Doch selbst die beste Gesetzgebung kann kriminelle Energie nicht verhindern. Allerdings: Wenn es uns in Europa gelingen würde, die einheitlichen Richtlinien auch tatsächlich in allen Mitgliedsstaaten zu kontrollieren, dann wären die Auflagen für alle Unternehmen gleich. Das wäre dann ein Vorteil für die Patienten, aber auch für die hiesigen Firmen.
Glienke: Das ist richtig. Das generelle Problem der neuen Verordnung ist aber, dass Implantate mit Instrumenten gleichgesetzt werden. Eine Pinzette soll den gleichen Anforderungen unterliegen wie ein Herzschrittmacher, das geht nicht.
?Lazic: Diese Unterscheidung ist wichtig. In Tuttlingen beschäftigen sich die Unternehmen zu 70 Prozent mit chirurgischen Instrumenten, also dem Handwerkszeug der Ärzte. Deshalb würde beispielsweise die geplante Höherstufung in der Klassifizierung zu großen Verwerfungen führen. Das grundlegende Problem ist aber: Mit der Novellierung sollen Tausende Medizinprodukte, vom Pflaster bis zur Herz-Lungen-Maschine, mal eben über einen Kamm geschoren werden. Das kann nicht funktionieren! Wir haben das selbst vor vier Jahren erlebt, als eines unserer Hirninstrumente höhergestuft wurde - ein schlichter Taster ohne Funktion ist damit in derselben Kategorie wie ein Herzschrittmacher. Das ist nicht nachvollziehbar.
Schwab: Es macht natürlich wenig Sinn, Instrumente und Implantate über einen Kamm zu scheren. Aber es ist eben auch so, dass neue Regeln neue Sicherheit bringen sollen. Da ist die Gefahr groß, dass man über das Ziel hinausschießt. Dabei muss man aber auch weiterhin Innovationen ermöglichen, die den Patienten nützen.
Sie hören sich an wie ein Interessensvertreter der regionalen Wirtschaft?...
Schwab: Das ist an sich nichts Schlechtes! Es geht mir um das angesprochene Augenmaß der Politik. Mit einem Generalverdacht gegen die Hersteller erhöhen wir den Patientenschutz nicht real, aber wir treiben die Kosten für das Gesundheitswesen in die Höhe. Das kann nicht das Ziel der Politik sein.
Lazic: Ich verstehe, dass sich ein Parlamentarier aufgrund der Arbeitsbelastung nicht so tief in die Thematik einarbeiten kann wie wir Betroffenen. Aber es wäre fatal, wenn die neue Klassifizierung greifen würde. Wenn sich beispielsweise ein Chirurg wegen einer Verbesserung an einem Instrument bei uns meldet, werden wir dem wohl nicht gerecht werden können. Selbst wenn es sich nur um eine kleine Veränderung handelt, können wir uns den Aufwand für eine Neuzulassung dann nicht mehr leisten.
Schwab: Der Skandal um die Brustimplantate hat vielleicht weniger das Problembewusstsein geschaffen. Dafür haben die Aufklärung und die Diskussion im Nachgang gezeigt, dass das aktuelle System nicht in allen Bereichen hundertprozentig sicher ist. Deshalb befürworte ich beispielsweise unangekündigte Kontrollen bei den Unternehmen.
Glienke: Da haben wir uns auch nicht gegen gesperrt. Allerdings sollten diese Kontrollen dann bei den regulären Audits angerechnet werden.
Lazic: Übrigens hatten wir bereits unangekündigte Kontrollen, die bislang nicht angewendete Rechtsgrundlage wird jetzt massiv umgesetzt.
Glienke: Von solchen Kontrollen habe ich auch erfahren. Die Unternehmen müssen diese Kosten jetzt zusätzlich schultern.
Mit welchen Kosten muss man hier rechnen?
Glienke: Ich habe Rechnungen von mehr als 6000 Euro gesehen, die zusätzlich fällig werden.
Schwab: Das hat aber nicht die Politik zu verantworten. Hier sind die entsprechenden Stellen selbst aktiv geworden. Die Unternehmen könnten diese Kontrollen theoretisch auch ablehnen, weil sie noch keine Grundlage haben.
Glienke: Das stimmt nicht ganz. Es gab eine Empfehlung von der EU-Kommission, die von den deutschen Stellen allerdings sehr schnell umgesetzt wurde. Diese Geschwindigkeit in der Umsetzung ist ganz sicher EU-weit nicht gleich! Und eine Ablehnung der Kontrollen ist für die Unternehmen natürlich nur eine theoretische Möglichkeit.
Schwab: Das ist der Punkt, weswegen der Wechsel von einer Richtlinie zu einer Verordnung in unserem Interesse liegt: Alle Mitgliedsstaaten sind dann verpflichtet, die Einhaltung zu kontrollieren. Bislang hat man es den Ländern selbst überlassen, und das ist durchaus ausgenutzt worden, zum Nachteil für die hiesigen Unternehmen.
Glienke: Wenn europaweit einheitliche Standards gelten, ist den Unternehmen auf jeden Fall schon geholfen, aber nur mit vernünftigen Regelungen. Bei vielen der Skandale gab es in Deutschland keine Zulassung für die Produkte, in anderen Ländern schon.
Schwab: Hier sind wir uns einig, die Vereinheitlichung der Regeln und der Kontrollen ist im allgemeinen Interesse.
Welche Auswirkungen für Ihr Unternehmen hätte denn eine andere Klassifizierung konkret?
Lazic: Die technische Akte für das jeweilige Instrument wird um einiges anspruchsvoller. Die Zulassung für ein Klasse-IIa-Instrument kostet jeweils bis zu 5000 Euro für drei bis fünf Jahre. Und als Unternehmen hat man nicht nur ein Instrument, sondern Hunderte.
Kann man das umlegen?
Lazic: Wir müssten dies natürlich für die jeweiligen Produktgruppen sorgfältig abwägen. Aber wenn die neuen Zulassungskriterien wie geplant greifen würden, dann würde die Weiterentwicklung von Produkten zunehmend erschwert und für gewisse Produkte schlichtweg keinen Sinn mehr machen. Da dann für jede Entwicklung eine erneute Zulassung erfolgen müsste, wäre das meiner Ansicht nach wirtschaftlich nicht mehr darstellbar.
?Schwab: Damit bremsen wir innovative Unternehmen und den medizinischen Fortschritt aus, das kann nicht das Ansinnen der Politik sein.
Glienke: Hinzu kommt, die Medizinprodukteverordnung ist nicht das einzige Papier, das sich wandelt. Es gibt ständig Veränderungen bei Normen und Anforderungen. Der regulatorische Aufwand für die Unternehmen ist deshalb schon heute enorm.
Schwab: Hier liegt ein Problem: Das Verwalten von Akten hilft keinem Patienten. Es braucht medizinischen Fortschritt mit sicheren Produkten zu einem vertretbaren Aufwand.
Lazic: Das stimmt. Bislang hieß es immer, die kleinen Unternehmen seien aufgrund ihrer Wendigkeit besonders innovativ. Für den normalen Mittelstand kann es durch die geplante Novellierung schwerer werden, er zahlt die Zeche.
Der Mittelstand wird gebremst, die Konzerne bevorzugt?
Lazic: Bevorzugt ist zu hart formuliert. Die Konzerne können schlicht aufgrund ihrer Strukturen mit den Anforderungen anders umgehen. Die Frage ist doch: Will man am Ende einige wenige haben, die den Markt dominieren, oder möchte man einen Wettbewerb auf dem Markt?...
Schwab: ...?der wiederum zu Innovationen führt. Aus meiner Sicht muss es diesen Wettbewerb geben. Deshalb darf es nicht zu der gesetzlich verordneten Neuzulassung bei den bereits zertifizierten Instrumenten kommen. Und bei den neuen Produkten darf der Aufwand zur Zulassung nicht exorbitant steigen.
Wird sich Ihre Sichtweise am Ende durchsetzen?
Schwab: Ich setze mich dafür ein, aber einfach wird es nicht. Denn am Ende entscheiden die 28 Gesundheitsminister sowie das EU-Parlament, und die Bereitschaft, sich in die Details einzuarbeiten, ist, wie gesagt, nicht überall gleich ausgeprägt.
Hintergrund: Die Klassen-Medizin
Die Medizintechnik zählt schon heute zu den am schärfsten regulierten Sparten. Die Produkte werden je nach Einsatz nach EU-Vorgaben klassifiziert. Aktuell gilt Folgendes:
Klasse I: u.?a. keine Risiken, kaum Hautkontakt. Produkte: Instrumente, Rollstühle, Verbände?...
Klasse IIa: u.?a. geringes Anwendungsrisiko und kurzzeitige Anwendung im Körper. Produkte: Einmalspritzen, Hörgeräte, Zahnkronen, Ultraschallgeräte?...
Klasse IIb: u.?a. erhöhtes Risiko, Langzeitanwendung. Produkte: Anästhesie- und Beatmungsgeräte, Kondome, Dentalimplantate?...
Klasse III: u.?a. hohes Gefahrenpotenzial, unmittelbare Anwendung bei Problemen des Herz-Kreislauf- und des Zentralnervensystems. Produkte: Herzkatheter, Stents, Herzschrittmacher und künstliche Hüften?...