Das Geständnis kommt unvermittelt. „Es ist eine klasse Erfahrung, ein tolles Projekt. Aber es ist auch ungeheuer anstrengend, das wurde von vielen unterschätzt.“ Günter Eberhardt lehnt rücklings an seinem Transporter, den Blick gen Himmel gerichtet zur Spitze des Thyssen-Krupp-Testturms. Eberhardt ist Chef des gleichnamigen Bewehrungsbau-Unternehmens. Kurz gesagt: Seine Mannschaft sorgt dafür, dass im Beton des Turms drei Millionen Einzelteile aus dünnen Stahlstangen für Stabilität sorgen. Ein riesiges Puzzle. Doch dazu später mehr.
Der Turm. Während Eberhardt sinniert, schiebt sich hinter seinem Rücken einige Meter entfernt eine Besuchergruppe vorbei. Der Bau bei Rottweil hat sich längst zum Magneten entwickelt. Kein Tag, kaum eine Stunde, ohne dass nicht Einzelpersonen oder ganze Busladungen von nah und fern zum eigens angelegten Besucherzentrum im Rücken der Baustelle pilgern. Selbst in den Nachtstunden und bei Regen wird geschaut, gestaunt – und es entstehen ungezählte „Selfies“, also Selbstbildnisse mit Turm im Hintergrund.
Für die Querdenkerin und Managementberaterin Anja Förster hat die Turm-Faszination eine schlichte Erklärung: „Das ‚oben‘ wird gegenüber dem ‚unten‘ als positiver und erstrebenswerter wahrgenommen.“
Erstrebenswert. Für Bewehrungsbauer Eberhardt ein gutes Stichwort. „Natürlich möchte man bei einem solchen Projekt mitmachen“, betont er. Deshalb hat nicht nur er mit spitzem Bleistift gerechnet, als der Generalunternehmer Züblin um ein Angebot bat. Eberhardt: „Man muss dabei einen guten Mittelweg finden, einerseits will man ein solches Projekt unbedingt stemmen, andererseits auch etwas verdienen.“
Wie Eberhardt sind eine Reihe von Mittelständlern entlang der Innovationsachse Stuttgart-Zürich bei den Rohbauarbeiten zum Zuge gekommen. So liefert die Sülzle-Gruppe den Stahl, TBU und Bau-Union den Beton, Gfrörer baggert und der Innenausbau bietet vielen weiteren Gewerken Chancen.
Man kann es so formulieren: Sie alle bauen hier ihr Meisterstück.
Die Herausforderung. Klaus Strohmeier sitzt im Besprechungsraum der kleinen Container-Siedlung am Fuß der Baustelle. Hinter den Containern haben Spaßvögel ein Beachvolleyball-Feld samt einem Sandkasten inklusive Spielzeug-Baufahrzeugen angelegt, benutzt wurde beides indes noch nicht. Vor den Containern wächst der Turm. Und Strohmeier trägt als Oberbauleiter bei Züblin für alles die Verantwortung.
25 Jahre ist der ruhige Mann mit den wuscheligen grau-mellierten Haaren im Geschäft, er hat Baustellen jeder Couleur begleitet. Seine bisherige Bilanz? „Alle Faktoren sind ausgereizt und auf die Spitze getrieben“, erklärt er im ruhigen Ton. Egal ob Betonqualität oder Bewehrungsgrad, die Gründungstiefe von 30 Metern, die Endhöhe von 246 Metern oder die Temperaturunterschiede, da rund um die Uhr an sieben Tagen die Woche in drei Schichten gearbeitet wird?… Strohmeier: „Eine Gleitbaustelle in diesem Umfang wurde noch nicht bewältigt.“
Die Worte des Oberbauleiters hallen im Container, seine Stimmlage ist neutral. Doch auch für ihn ist klar: Das Projekt ist gelungen, weil sich Konzernerfahrung mit den hochgekrempelten Ärmeln im Mittelstand verband.
Gleitbaustelle. Der Laie kann mit dem Begriff wenig anfangen, der Kenner zieht mit Bewunderung die Brauen hoch. Es ist so etwas wie die Königsdisziplin im Hochbau. Vereinfacht ausgedrückt wandert die Schalung für den Beton permanent nach oben. Der herkömmliche Takt geht so: Schalung bauen, Bewehrung reinpacken, Beton dazu, aushärten lassen, Schalung öffnen, neuer Takt. Bei der Gleitschalung geschieht alles gleichzeitig, aber geordnet.
Dafür ist höchste Präzision gefordert. Jeder Beteiligte muss zu jedem Zeitpunkt wissen, was er und die anderen zu tun haben. Selbst die kleinste Unregelmäßigkeit kann fatale Folgen haben. „Im schlimmsten Fall muss ein Teil des Baus abgerissen werden und die Gleitschalung ist nicht mehr zu gebrauchen“, so Strohmeier. Man merkt ihm deutlich an, was dieser Worst Case für alle Beteiligten bedeutet hätte.
Die Fallstricke. Das nüchterne Besprechungszimmer in einem Zweckbau in Bad Dürrheim steht im Kontrast zur Ausgelassenheit von Christoph Ramsperger und Harald Schmid. Ramsperger ist als Geschäftsführer der Transport-Beton-Union TBU Auftragnehmer für die Beton-Lieferung, Schmid verantwortet als Geschäftsführer der Firmengruppe Bau-Union Herstellung und Transport des Betons. Gemeinsam schwelgt das Duo gerade in unzähligen Anekdoten rund um den Turmbau.
Immerhin kommt dem Baustoff bei dem Projekt eine besondere Bedeutung zu – ohne eine besondere Rezeptur funktioniert die Gleitschalung erst gar nicht. Deshalb haben Schmid und Ramsperger schon lange vor dem eigentlichen Baubeginn zusammen mit Zulieferern über die Rezepturen gebrütet. Fachbegriffe wie „Grundstandfestigkeit“ und „Glättung“ schallen durch den Raum. Am Ende hatte man eine Rezeptur, die alle gewünschten Eigenschaften aufwies. Nur: „Der Beton muss von minus zehn Grad bis zu plus 40 Grad verarbeitbar sein“, so Ramsperger: „Das ist schier unlösbar.“ Denn bei veranschlagten 100 Gleittagen für den Turm ist diese Temperaturspanne erwartet worden – und eingetroffen. Probleme gab es dennoch nicht. Mission erfüllt.
Auch weil eben im Vorfeld viel gehirnt wurde. Ein Beispiel: Zement wird vom Werk mit Temperaturen von 70 bis 90 Grad Celsius ausgeliefert. Schmid: „Die Temperatur wäre für die Herstellung dieses Betons zu hoch gewesen. Wir dürfen den Beton mit nicht mehr als 30 Grad Celsius anliefern.“ Bei höheren Werten hätte der Gleitvorgang nicht funktionert. Also hat Holcim bereits im Zementwerk Vorkehrungen getroffen und bei der Bau-Union wurden im Sommer die Auslieferfahrzeuge sogar gekühlt. „Wir haben dafür eigens eine Anlage gebaut“, so Schmid.
Derlei Herausforderungen gab es zuhauf, die Spannweite reicht vom ungewohnten Schichtbetrieb – Tag wie Nacht musste ein Zementmischer pro Stunde auf die Baustelle – bis hin zu den Tücken der automatischen Datensicherungen der Mischanlage, die mit dem Schichtbetrieb erst nicht konform ging. Ramsperger lacht: „Das sind aber alles Herausforderungen, für die man als Mittelständler schnell Lösungen findet.“
Auch Günter Eberhardt hatte diese Herausforderungen zu meistern. Genauer gesagt drei Millionen Stück davon: Aus so vielen Einzelteilen besteht geschätzt die Bewehrung im Innern des Betonturms. „Beinahe jeder Meter erforderte eine andere Bewehrung“, erläutert der Geschäftsführer, der mit seinen Trupps viel Erfahrung auf dem Gebiet hat.
Hier ein Türsturz, dort eine Aussparung für Kabel, unten mehr Stahl als oben – alles aufgezeichnet in 55 Einzelplänen der äußeren Betonröhre mit ihren zwölf Aufzugsschächten im Innern. Eberhardt: „Das ist gerade mental eine Herausforderung für die Mitarbeiter.“ Ein wenig wie Puzzlen unter Zeitdruck, denn die Schalung wandert ja permanent – und das an 100 Tagen, in drei Arbeitsschichten pro Tag, alle zehn Tage, wenn der Kran in die Höhe wuchs, gab es eine kurze Pause von ein, zwei Tagen. „Normalerweise dauern solche Baustellen drei bis vier Wochen“, so Eberhardt. In Rottweil wuchs der Turm aber vier Monate in die Höhe!
Heinrich Sülzle kann den Turm sehen, wenn er einen kurzen Spaziergang von seinem Büro zu einer leichten Anhöhe macht. „Eigentlich schade, was wir geliefert haben, sieht man gar nicht mehr“, schmunzelt er. Der Chef der gleichnamigen Gruppe mit Sitz in Rosenfeld kennt sich aus mit großen Baustellen. Sülzle liefert von zehn Standorten in Deutschland pro Jahr rund 25?000 Tonnen Baustahl für große wie kleine Projekte. Sülzle: „Die Geschwindigkeit, mit der der Turm wuchs, war aber auch für uns die Herausforderung.“ Für 3,60 Meter pro Tag mussten Stahlteile konfektioniert und geliefert werden. „Herausragend“ tituliert er das Projekt.
Wobei bei Sülzle die komplette Belegschaft von dem Turm angefixt ist. „Alle Mitarbeiter waren vor Ort, wollten sehen, wie der Turm wächst“, erzählt Sülzle. Da ist sie wieder, die Faszination des „oben“, wie es Anja Förster formuliert hat. „Da kommen selbst größere Baustellen wie ein Tunnel bei Rastatt, für den wir 18?000 Tonnen Stahl liefern, oder ein Autobahnabschnitt bei Berlin mit 36 Meter langen, bei uns gebauten Bewehrungselementen nicht mit“, lächelt Sülzle.
Die Faszination ist das Stichwort für Alfons Bürk. Der Rottweiler Architekt ist Projektsteuerer und, wenn man so will, der „gute Geist“ des Projekts. Viele sagen, ohne ihn gebe es den Turm an dem Ort gar nicht. Bürk begleitet Thyssen-Krupp bei deren Visionen fürs Aufzugswerk in Neuhausen auf den Fildern. Er selbst nimmt sich eher zurück: „Für die ganze Region kann das Projekt ungeheuer viel Positives bewirken.“
Bürk sitzt im Baucontainer am Fuß des Turms. Er ist umtriebig, bereits Anfang der 1980er-Jahre hat „Der Spiegel“ über den damals Jugendlichen und dessen Rettung eines baufälligen Hauses in Rottweil berichtet. Heute hat er im Vorfeld die Einwohner mit dem Megaprojekt versöhnt, sie behutsam aufs Kommende vorbereitet. „Ich war dabei aber nur eine Art Megaphon, indem ich zugehört habe und die Meinung der Rottweiler verstärkte“, bleibt Bürk bescheiden. Wer die positive Stimmung bei den Bürgerversammlungen erlebt hat, weiß, was er meint.
Die Zukunft. Zurück zu Oberbaumeister Strohmeier einen Container weiter. Soll das Werk wirklich den Meister loben, dann hat er noch eine Menge zu tun. Immerhin hat Züblin die Ausschreibung inklusive der ungewöhnlichen Architektur des Duos Helmut Jahn und Werner Sobeck gewonnen. Wenn man so will, schlüsselfertiges Bauen auf höchstem Niveau und mit festem Budget von 40 Millionen Euro. Deshalb muss Strohmeier noch eine Menge Herausforderungen meistern, was er nicht unterschätzt. Beispielsweise das Anbringen der 17?000 Quadratmeter Außenhülle. Oder: „Wie bekommt man hunderte Meter Kabel in den Schächten verlegt, ohne die Kabelrolle einfach runterzuwerfen.“