1 „Wir hinken in Deutschland hinterher“
Die Digitalisierung ändert die Art zu arbeiten. Nachhaltig. Rasant. Jetzt. Soweit so phrasenhaft. Mit der Veranstaltungsreihe „Work“ lenkt der Einrichtungsspezialist Vitra den Blick auf die Notwendigkeiten hinter den Schlagworten. Und da gibt es eine Menge zu tun
Die Erkenntnis des Abends gibt's dieses Mal schon am späten Nachmittag, mit einer Fritz Kola in der Hand beim Begrüßungsgespräch im Foyer: "Wir hinken in Deutschland um gut zehn Jahre hinterher." Der Planer, der das so einfach ausspricht, hat reichlich Erfahrung, ergründete jüngst im Auftrag eines großen Konzerns deren Produktionen in Irland, Tschechien und China. Die Ernüchterung am Ende der Exkursion ist entsprechend: "Wir müssen uns ziemlich anstrengen." Doch die Worte klingen nicht resigniert, sondern hochgradig motiviert. Herausforderung angenommen!
Damit willkommen bei der Vitra-Veranstaltungsreihe "Work on Tour"!
Bei dieser ungewöhnlichen Reihe stehen keine Möbel im Vordergrund, es werden Diskussionen geführt, Querdenken ist gefragt. Es gilt, Denkprozesse anzustoßen. Kurzum: Die Reihe spürt den Veränderungen in der Arbeitswelt nach. Und man spricht über Notwendigkeiten, sich diesen Veränderungen erst zu stellen, um sie dann zu gestalten.
Das Setting am jeweiligen Ort ist inspirierend - egal ob in einer leeren Fabriketage im Kreativzentrum in München, eher gediegen im Stuttgarter Römerkastell, im Werkstatt-Style im neuen "Smow"-Einrichtungshaus in Villingen-Schwenningen oder in den vielen anderen Städten der Tour: Eine Art Plaza mit unterschiedlichen Sitzgelegenheiten bietet den Raum für Impulse und Diskussion. Drumherum stehen Container-ähnliche Objekte, im Innern gibt's digitale und analoge Einblicke in Planung, Ausführung und Notwendigkeiten modernen Einrichtens.
Damit aber zum eigentlichen Sinn von "Work", dem Aufspüren des Notwendigen. "Das Morgen ist schon da", bringt es Architekt Michael Frey vom Büro Schmelzle + Partner als einer der Diskutanten so brachial wie genial auf den Punkt. Sprich, die Welt ändert sich rasant, aber eben nicht erst morgen, sondern jetzt. Das ist die Ausgangslage.
Raphael Gielgen, Trendscout bei Vitra, drückt es ein wenig eleganter aus: "Wir erleben gerade das Ende der Brettspiel-Ökonomie mit ihren einfachen Regeln." Zur Erinnerung: Brettspiele funktionieren immer gleich. Jeder kommt mal dran, am Ende gewinnt einer. Simpel. Heute zeichnet sich dagegen die "XBox"-Ökonomie ab - das Spiel mit der Konsole endet im Prinzip nie und man spielt nicht einer gegen alle, sondern ein Team gegen ein anderes. Gemeinsam will man das nächste Level erreichen. Und alles passiert in diesen Spielen irgendwie gleichzeitig, gerne auch per Splittscreen. Gielgen: "Dieses Gleichzeitige macht den Unternehmen richtig zu schaffen." Sogar auf zwei Ebenen: Einmal der Übergang zwischen alter und neuer Spielwelt. Zusätzlich eben auch die Anfänge der "XBox"-Welt.
Bildlicher lässt sich kaum umschreiben, was Fachleute gerne unter dem Stichwort "Digitalisierung" abheften.
Noch nicht wirklich verinnerlicht, das neue Prinzip? Dann noch ein plakatives Beispiel: Treffen sich Daimler-Boss Dieter Zetsche und Facebook-Chefin Sheryl Sandberg bei einem Kongress auf dem Sofa. Der Moderator fragt beide nach der Zukunft. "Wir wollen die besten Autos bauen", sagt Zetsche. Sandberg sinniert: "Wir fragen uns, ob die Belieferung der Kunden ohne Zustellfahrzeuge nicht einfacher und effizienter ist?" Evolution ist das Zauberwort. Die nächste Stufe, das nächste Level erreichen.
Damit ist der Ton gesetzt, die Notwendigkeit des Umdenkens (wie, wann, wo, mit wem und weshalb man arbeitet) mehr als deutlich und Vitra-Trendscout Gielgen packt noch zwei Denkanstöße obendrauf: "Wir sind als Gesellschaft gerade ziemlich satt, deshalb fehlt uns das große Bild, eine Landkarte wie das Morgen in der neuen Ökonomie aussehen soll." Und: "Die Aufgabe, eine solche Karte zu gestalten, ist für eine Person alleine zu groß." Das gilt in Unternehmen ebenso wie in der Politik: "Den Umbruch kann man nur gemeinsam schaffen."
Alles wohlgesetzte Worte eines Mannes, der die meiste Zeit des Jahres in aller Welt Trends aufspürt. Doch wie schaut es an der Basis aus? Direkt in der Praxis der Unternehmen?
"Wir spüren den Veränderungsdruck massiv", erklärt Carlo Sprenger, verantwortlich für Personal bei dem Sonnenschutz-Spezialisten Somfy: Einerseits werden die Technologien komplexer, die Anforderungen an die Integration der Produkte in die Haustechnik steigen. Andererseits stellen die Mitarbeiter höhere Ansprüche an die Räumlichkeiten. Sprenger: "Wir wissen noch nicht, in welcher Konstellation wir in fünf, sechs Jahren arbeiten werden. Unsere neuen Räume müssen deshalb so flexibel wie möglich sein."
Einen Anspruch, dem sich Martin Bellin, Vorstand des gleichnamigen Spezialisten für Liquiditätsplanung in Unternehmen, nur anschließen kann: "Die Mitarbeiter verbringen einen Großteil der Lebenszeit im Büro. Das Büro ist deshalb ein Lebensraum und muss entsprechend gestaltet sein." Wobei dieser Prozess nach Einschätzung von Bellin kein leichter ist - "wir haben bei unserem ersten Bau Fehler gemacht". Immerhin gab's dann eine steile Lernkurve für den nächsten Bau...
Überhaupt das Bauen! Architekt Frey wünscht sich von den Auftraggebern mehr Weitsicht: Immerhin vergehen von der ersten Idee, über die Grundstückssuche, die Finanzierung, vertragliche Vereinbarungen und so weiter und so fort gerne mal zehn Jahre. "Dann platzen die Firmen schier aus allen Nähten und die Planungen müssen entsprechend flott voran gehen." Wobei Frey bei "Work" nicht nur als Planer, sondern eben auch als Arbeitgeber als Diskutant sitzt. Das Büro hat seinen Sitz in Herdwangen. Bitte wo? Eben. Das liegt grob verortet bei Freudenstadt und wird dennoch gerne von (Nachwuchs-)Architekten aus Metropolen angesteuert. Frey: "Wir haben uns dafür aber einiges einfallen lassen müssen."
Alles Erfahrungen, die auch Heinrich Riethmüller gleich in mehrfacher Hinsicht machen durfte. Als Inhaber der 1596 gegründeten Buchhandlung Osiander mit 450 Mitarbeitern und 51 Filialen kennt er den Wandel: "Wir stehen seit 1994 durch die Digitalisierung unter Druck, und unsere Branche hat es im Gegensatz beispielsweise zur Musikindustrie bislang gut gemeistert." Gelungen sei dies auch, weil man den Mitarbeitern Wertschätzung entgegengebracht habe: "Das ist genauso wichtig wie ein gut eingerichtetes Büro!"
Damit sind die Notwendigkeiten deutlich, die Marschrichtung ist klar. Doch einfach los marschieren ist nicht. Das wird in den angeregten, intensiven Diskussionsrunden rasch deutlich. Bevor der erste Strich einer Planung gemacht werden kann, gilt es Mitarbeiter einzubinden, das Führungspersonal einzuschwören, Produkte und das Tun, Hierarchien und Abläufe zu hinterfragen sowie ganz generell mal eben das eigene Unternehmen zu überdenken: Wofür steht man? Früher, heute, künftig?
Noch nicht genug Input? Dann wiederum zwei Grundüberlegungen von Trendscout Gielgen:
1) Die Lernkurve in Teams nimmt ab, je länger diese zusammen arbeiten. Es braucht deshalb regelmäßig (Denk-)Anstöße von außerhalb.
2.) Der Mensch entfaltet seine Potenziale dann am besten, wenn er sich abseits des Alltäglichen bewegt.
Bitte alles kurz sacken lassen. Der Eindruck ist noch immer komplex? Ist es nicht wirklich. Man muss sich eben nur damit beschäftigen.
Oder wie es Vitra-Vertriebsleiter Ulrich Maier an diesem Abend in einem Schlusssatz treffend formuliert: "Eigentlich will man ja nur ein Büro planen. Gleichzeitig stößt man aber den wohl größten Changeprozess in seinem Unternehmen an." Darauf noch eine Fritz Kola zum Abschluss - als Aufputscher! Schließlich führt ohnehin kein Weg an der Veränderung vorbei.