Das Büro passt nicht zu Marian Schreier. Es atmet den Charme der späten 1970er-, frühen 1980er-Jahre. Schreier ist aber erst 26 Jahre alt. „Ich habe hier tatsächlich seit dem Amtsantritt nur ein Bild aufgehängt“, blickt er sich um. Der Rest der Einrichtung stammt noch von seinem Vorgänger – inklusive der Präsentflasche Schnaps auf der niedrigen Anrichte hinter dem Schreibtisch. Schreier war in den vergangenen gut zwölf Monaten zum Umräumen schlicht zu beschäftigt.
Schreier ist Bürgermeister in Tengen. Wer die Stadt mit seinen 4500 Einwohnern verteilt auf gut 24 Orte und Weiler und Höfen auf einer Fläche von 62 Quadratkilometern besuchen möchte, der nimmt von der Autobahn 81 die Abfahrt Geisingen. Dann geht’s über schmale Straßen mit Kurven und Kehren durch Wälder und über Hügel hinein in die Landschaft des Hegau kurz vor der Schweizer Grenze. Tengen selbst duckt sich mit seinen pittoresken Gassen in eine Senke. Das Rathaus direkt am ortsprägenden Kreisverkehr atmet den gleichen Charme, wie das Büro das Bürgermeisters. Direkt daneben steht noch eine Telefonzelle in Magenta-Grau.
Diese Beschreibung soll nicht despektierlich klingen! Sie ist notwendig, um das Geschehene einordnen zu können: Schreier ist an diesem Ort zum Bürgermeister gewählt worden, zum jüngsten in ganz Deutschland. Im ersten Wahlgang. Mit 71 Prozent der Stimmen. Bei einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent. Schreier war zum Zeitpunkt der Wahl 25 Jahre alt. Er hatte keinen Führerschein. Er ist Sozialdemokrat und Protestant und Bildungsbürger und Großstadtkind.
Tengen ist konservativ, katholisch, christdemokratisches Kernland. Oder war es. Vielleicht hätte den Konservativen die Wahl eine Lehre sein sollen: Pfründe gibt’s nicht mehr.
Schreier denkt darüber nicht nach. Seine Herausforderungen sind andere. Der Kindergarten muss erweitert werden. „Der Bedarf an Betreuungsplätzen steigt stetig an.“ Dazu der Breitbandausbau. „Die Digitalisierung kann für den ländlichen Raum eine riesige Chance sein, wenn die Anbindung stimmt.“ Ein Online-Beschwerdemanagement für die Bürger wurde eingeführt. „Das wird viel besser angenommen als gedacht.“ Er hat eine Bestandsaufnahme der städtischen Gebäude veranlasst. „Wir haben 44 Gebäude, die wir unterhalten müssen. Da hatten wir zuvor keinen rechten Überblick.“ Er hat dem Gemeinderat die Stelle eines Bautechnikers fürs Rathaus vorgeschlagen, der Rat hat das Ansinnen akzeptiert. „Als Bauherren brauchen wir einfach diesen technischen Sachverstand.“ Dann noch das seit Jahren defizitäre Pflegeheim. Und er hat den Führerschein gemacht. Keine schlechte To-do-Liste für einen, der erst vor acht Jahren das Abitur gemacht hat.
Beim Blick auf Schreiers Vita wird schnell klar: Gas geben kann der Junge. Er war Jugendrat in Stuttgart-West, diskutierte sich zum zweiten Platz beim Landeswettbewerb „Jugend debattiert“, hat in Konstanz und Oxford Politik- und Verwaltungswissenschaften studiert, bekam eine Begabtenförderung der Friedrich-Ebert-Stiftung, arbeitete im Bundestag, absolvierte ein Praktikum bei den Vereinten Nationen in Brüssel. Professioneller lässt sich eine Karriere als Berufspolitiker kaum einfädeln.
Mit Verlaub: Mit dieser Vita nach Tengen? Schreier lächelt: „Das Amt des Bürgermeisters bietet in Baden-Württemberg einen sehr großen Gestaltungsspielraum. Das hat einen großen Reiz.“ Für ihn ist die Stelle eben kein Ab- oder Aufstieg, es ist ein Einstieg – er kannte den Ort überhaupt nicht, als ihn ein ehemaliger Studienkollege auf die anstehende Wahl aufmerksam gemacht hat.
Was folgte, ist ein Lehrstück wider die Politikverdossenheit. Schreier mobilisierte Alt und Jung, fuhr per Rad, Bus und als Beifahrer zu Veranstaltungen, auf den Markt oder zu entlegenen Höfen. Er nutzte intensiv Facebook. Schreier schaffte vor allem eines – und das trotz seiner eher unnahbaren Art, der schneidigen, geschliffenen Rede, was beides im beinahe krassen Gegensatz zu seiner Jugendlichkeit steht: Schreier bewegt sich auf natürliche Art auf Augenhöhe mit den Bürgern. Er vermittelt Verbindlichkeit. In der Politik, egal auf welcher Ebene, ist das eine Gabe.
Macht er mehr daraus? „Diese Frage stellt sich mir nicht. Ich habe hier die nächsten sieben Jahre noch gut zu tun.“ Dass er damit nicht die fällige Umgestaltung seines Büros meint, ist angesichts seines Tempos selbstredend.
Das Bild, das Schreier hinter seinem Schreibtisch aufgehängt hat, ist übrigens eine Widmung des SPD-Querdenkers Peer Steinbrück. Schreier hat in dessen Büro gearbeitet, Steinbrück zeigte sich voll des Lobes über den jungen Mann mit dem „blitzblank aufgeräumten“ Kopf. Es gab schon schlechtere Empfehlungen in der Politik. Den Namen Schreier sollte man sich deshalb merken.